Yilmaz Güney wird häufig als Gründer des kurdischen Kinos bezeichnet. Sein Drama "Yol – Der Weg" wurde 1982 auf den Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet – und postwendend in der Türkei verboten: weil auf der Zugfahrt eines Protagonisten in die Osttürkei kurz der Schriftzug „Kurdistan“ – das Land, das nicht sein darf – eingeblendet war. Als kürzlich "Der Junge Siyar" auf dem Istanbuler Filmfestival lief, rief ein solcher Zwischentitel keinen Skandal mehr hervor. Einiges hat sich geändert in den vergangenen 32 Jahren.

Unterdrückte Kultur

Yol - Der Weg (1982)

Concorde

Ungefähr 30 Millionen Kurden bewohnen heute ein Gebiet, das sich über die Staaten Iran, Irak, Türkei und Syrien erstreckt. In ihren Heimatländern sind die Kultur der Kurden, ihre Sprache und dementsprechend auch ihr Kino in unterschiedlichem Maße Repressalien ausgesetzt. Im Iran, der sich als multiethnisches Land versteht, gibt es sogar Fernsehprogramme und Kulturveranstaltungen in kurdischer Sprache. Hier wurde auch der semidokumentarische Spielfilm Zum externen Inhalt: Zeit der trunkenen Pferde (öffnet im neuen Tab) (2000) mit offizieller Genehmigung gedreht. Bahman Ghobadis Film schildert das harte Leben im iranisch-irakischen Grenzland. Wie so oft ist es eine Kindergeschichte, die uns die kurdische Kultur näherbringt. Um die Medikamente des kranken Madi zu finanzieren, plant die Familie, seine Schwester Rojin zu verheiraten. Als die vereinbarte Mitgift nicht ausgezahlt wird, versucht der zwölfjährige Ayoub, seinen Bruder mithilfe von Schmugglern über die verschneite Grenze zu bringen, wo Madi behandelt werden kann.

Entfremdung im Exil

Die wilde Mischung aus Politik und Poesie – mal zotig, mal zärtlich – entspreche dem Naturell der Bewohner in dieser Region, hat Ghobadi einmal gesagt. Doch nachdem seine Filme immer öfter in kleinere Kinosäle abgeschoben wurden, er bezichtigt wurde, den kurdischen Separatismus zu befördern, und iranische Geheimdienstagenten ihn schließlich wiederholt bedrohten, verließ Ghobadi 2009 den Iran. Mittlerweile pendelt er zwischen Europa, den USA und dem Nordirak. Wie Ghobadi waren die meisten kurdischen Regisseure irgendwann gezwungen, im Exil zu arbeiten. In der Türkei, in Syrien und im Irak machte die ungleich stärkere Unterdrückung ein kurdisches Filmschaffen faktisch unmöglich. Der im syrischen Qamishli geborene und seit 1999 in der Schweiz lebende Regisseur Mano Khalil porträtierte 2013 in seiner Dokumentation "Der Imker" exemplarisch ein Leben in der Fremde. Der alte Imker, dessen Beruf in der Schweiz nicht anerkannt wird, muss zeitweise Hilfsarbeiten verrichten. Zugleich zerfrisst ihn die Sorge um seinen Sohn, der sich in der Heimat dem bewaffneten Kampf angeschlossen hat.

Verbreitung durch Filmfestivals

Min Dit - Die Kinder von Diyarbakir (2009)

Mitosfilm

Derart über den Globus zerstreut, existiert das kurdische Kino heute vor allem auf internationalen Filmfestivals oder dank der weltweit wachsenden Zahl von kurdischen Filmwochen. Vom 30. Mai bis 4. Juni 2014 fand zum Beispiel in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Norden Iraks, das erste Filmfestival statt: mit 40 Filmen aus der Türkei, dem Iran, Syrien, Indien und Ägypten. In der Autonomen Region Kurdistan, die laut Verfassung zur Republik Irak gehört, genießen kurdische Filmemacher eine größere Freiheit und Unabhängigkeit. So wurden dort erst in jüngster Zeit 14 neue Kinos eröffnet. Doch trotz des zunehmenden Interesses am kurdischen Kino, was sich in der steigenden Zahl an Filmproduktionen, Festivalteilnahmen und Filmreihen widerspiegelt, besteht weiterhin Nachholbedarf: Für ein eigenständiges Filmschaffen fehlt es häufig an der nötigen Ausbildung und dem richtigen Equipment. Zudem ist das kurdische Kino noch nicht im Mainstream angekommen – das heimische Publikum interessiert sich in erster Linie für das indische Bollywood-Kino, US-Filme sowie arabische und türkische Soaps.

Kurdische Filme aus der Türkei

Vor allem in der Türkei hat sich in den vergangenen Jahren viel bewegt: Kam es früher durchaus vor, dass Filme mit kurdischer Thematik oder in kurdischer Sprache pauschal unter Terrorismusverdacht standen, ist momentan auf den zahlreichen türkischen Filmfestivals ein reiches Angebot an kurdischen Filmen vertreten. Die Dokumentation "On our way to School" von Ozgür Dogan und Orhan Eskiköy (Iki dil, bir bavul, 2008) etwa zeigt auf melancholische und oft ironische Weise den kulturellen Graben zwischen Staatsmacht und Minorität. Ein junger, in die Provinz versetzter Lehrer verzweifelt an den fehlenden Türkischkenntnissen seiner Schüler, die zudem regelmäßig schwänzen, um auf den elterlichen Höfen zu helfen. Nach einem einsamen Jahr muss der Pauker wieder gehen. Er spricht ein wenig Kurdisch, die Kleinen haben etwas Türkisch gelernt, aber die kulturellen Unterschiede sind zu groß.

Grenzen verschieben sich

The Future Last Forever (2011)

AF-Media

Waren kurdische Filmemacher früher meist gezwungen, nach Europa auszuwandern, ist in den letzten Jahren auch eine gegenläufige Migrationsbewegung zu beobachten. So kehrte der Berliner Filmemacher Miraz Bezar, der als Neunjähriger mit seinen politisch verfolgten Eltern nach Deutschland floh, für die Arbeit an Zum externen Inhalt: Min Dit – Die Kinder von Diyarbakir (öffnet im neuen Tab) (2009) in sein Heimatland zurück. In dem in der Türkei mehrfach ausgezeichneten Film müssen drei Kinder die Ermordung ihrer Eltern durch die Geheimpolizei Jitem miterleben. Jahre später erkennen sie auf der Straße den Mörder wieder und üben Rache – unblutig, wie Bezar betont. Auch im Kino sind die Grenzen inzwischen verschoben. In "My Marlon And Brando" (Gitmek, 2009) verliebt sich die Istanbuler Schauspielerin Ayca bei Dreharbeiten nahe der Grenze in den irakischen Kurden Hama und beginnt mit ihm in Briefen und langen Telefonaten eine romantische Beziehung. Als Hama jedoch während der US-Invasion verschwindet, begibt sich Ayca auf die Suche nach ihrem Geliebten. Längst beschäftige nicht mehr ausschließlich kurdische Regisseure die Geschichte ihres Volkes, sagt Özcan Alper, einer der wichtigsten türkischen Nachwuchsfilmer. „Ich bin kein Kurde, aber der Konflikt ist unser aller Problem. An der Uni habe ich Aktivisten kennengelernt. Kurden, die Guerillas wurden. Einige meiner Bekannten starben in der Armee. Als junger Filmemacher muss ich meinen Teil dazu beitragen, um etwas gegen die allgemeine Desinformation zu unternehmen.“

Kurdische Identität stärken

In Özcans "Future Lasts Forever" reist eine junge Musikethnologin nach Diyarbakir, wo sie die Folgen des Krieges unmittelbar erlebt. Für ein Forschungsprojekt zeichnet sie die Klagegesänge kurdischer Frauen auf und verhilft dabei auch der vom Aussterben bedrohten Tradition der Dengbejs, der kurdischen Sänger, zu ihrem Recht – und zu ihrem Bild. Dokumentarisches vermischt sich mit der Spielhandlung und verleiht dieser eine akute Dringlichkeit. Mit einer Mischung aus dokumentarischen und fiktionalen Mitteln versucht auch die Initiative Anadolu Kultur, die kulturelle Differenz zu überwinden. Das Projekt „Bak: Revealing the City through Memory“ ermuntert mit Unterstützung des Diyarbakir Arts Center Nachwuchsfilmer aus Canakkale und Izmir in der Westtürkei zur Zusammenarbeit mit Filmemachern aus Batman und Diyarbakir im Osten des Landes. Ziel ist unter anderem, die kurdische Identität zu stärken, indem man die eigene Stadt und seine Mitmenschen filmt. Ein neues Ausbildungszentrum in der aufblühenden kurdischen Metropole Diyarbakir geht sogar noch einen Schritt weiter und versucht, ein Netzwerk kurdischer Filmemacher aus dem Irak, aus Syrien, dem Iran und der Türkei zu etablieren. So entsteht Schritt für Schritt ein „virtuelles Kurdistan“. Mit friedlichen Mitteln, in einer denkbar kriegerischen Zeit.