Utopien
In der europäischen Geistesgeschichte gehen Utopien als ideale gesellschaftliche oder staatliche Gegenentwürfe zur Realität auf Platon zurück. Schon der von ihm geschaffene Mythos des fiktionalen Inselreiches Atlantis kritisiert die in Demagogie zerfallende Demokratie Athens und stellt ihr das Ideal einer aristokratischen Gesellschaftsordnung gegenüber. Als Ursprung utopischen Denkens gilt aber vor allem sein Werk »Politeia« (Der Staat), in dem Platon ein am idealen Menschen orientiertes Staatsmodell auf Grundlage der bestehenden ständischen Ordnung entwirft und der Verschiedenheit der Menschen Rechnung trägt. Die übergeordnete Aufgabe des Staates ist seine Selbsterhaltung. Er nimmt diese wahr, indem er den Menschen mittels Bildung an seine Vervollkommnung heranführt und auf diesem Wege sein ethisches Ziel – der vollkommene Mensch im vollkommenen Staat – verwirklicht. Das Privateigentum wird in Platons Staatsvision lediglich für die herrschenden Stände abgeschafft, da sie sich der Forderung nach Gleichheit und Gemeineigentum qua Einsicht würdig erweisen.
Wort und Begriff der Utopie in ihrer griechischen Bedeutung von "ou" (nicht) und "topos" (Ort) als Nirgendsland sind eine humanistische Wortschöpfung und entstehen erst im frühen 16. Jahrhundert. Namensgebend ist Thomas Mores staatsphilosophische Schrift »Utopia«, die das Leben in einem idealen Staat auf einer fernen Insel gleichen Namens beschreibt. »Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopie«, so die deutsche Übersetzung des lateinischen Titels, stellt die Grundform der literarischen Utopie dar. In der Form eines fiktionalen Reiseberichts konstruiert der Autor eine ideale Gesellschaft, die sowohl zeitlich als auch räumlich entrückt ist, die aber im Unterschied zum Märchen oder einer in die mythische Vergangenheit gerichteten Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies rational vorstellbar und damit möglich erscheint. Die literarische Utopie bzw. der utopische Roman werden zum Gattungsbegriff einer Prosa, die mit unterschiedlichem Realitätsbezug und Rationalitätsgehalt – auch als Satire – die Auseinandersetzung mit idealen Gesellschaften bis weit ins 18. Jahrhundert dominiert. Erst im Kontext der Aufklärung und ihres Konzepts des mündigen, vernunftbegabten Individuums wird das utopische Denken wieder zum philosophischen Gegenstand und auf sein rational-politisches Potenzial verpflichtet. Diese Anbindung des utopischen Denkens an die rational vorstellbare Umsetzung seiner zentralen Elemente, die während der Französischen Revolution in der politischen Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zusammengefasst wurden, machten es vor dem Hintergrund der technologischen Umwälzungen des Industriezeitalters zur Triebfeder sozialer Bewegungen.
Die Sozialutopien der so genannten Frühsozialisten oder utopischen Sozialisten im frühen 19. Jahrhundert sind – im Unterschied zur marxistischen Theorie – als politische Theorien letztlich an die Einsichtsfähigkeit der Herrschenden gebunden und stellen die politische Verfasstheit des jeweiligen Gemeinwesens nicht grundsätzlich in Frage. In seiner Schrift »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« kritisiert Friedrich Engels dieses irrationale, der historischen Erfahrung widersprechende und damit unwissenschaftliche Element als wirklichkeitsfremd. Die Forderung nach Brüderlichkeit wird endgültig in die Utopie verwiesen, da sie Realitätsbezüge bewusst oder unbewusst vernachlässigt. Der historische Konflikt zwischen sozialistischem und bürgerlichem Denken ist damit auf die unterschiedliche Gewichtung von Freiheits- und Gleichheitsprinzip reduziert. Sozialistische Theorien, die ökonomischer Chancengleichheit Vorrang vor den individuellen Freiheitsrechten einräumen, bergen die Gefahr der staatlich verordneten Uniformität. Das individuelle Freiheits-Primat des bürgerlich-demokratischen Denkens ist bedroht, wenn gesellschaftliche Eliten ihre ökonomische Macht missbrauchen.
Im 20. Jahrhundert zeigen – unter dem Eindruck des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts einerseits und zweier Weltkriege andererseits – die historischen Entwürfe einer idealen Gesellschaftsordnung ihre Ambivalenz und ihren potenziell totalitären Gehalt. Die Futurologie als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Zukunft gewinnt an Einfluss. Utopisches Denken manifestiert sich meist als Negativutopie, die der Ideengeschichte ihre nicht eingelösten Zukunftsversprechen vorhält und vor den Risiken eines Fortschrittglaubens warnt, der das technisch Machbare mit dem gesellschaftlich Wünschenswerten identifiziert.
Literaturhinweise:
Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 1995
Arnhelm Neusüss (Hrsg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Campus Verlag, Frankfurt am Main/ New York 1986
Autor/in: Margarete Häßel (punctum, Bonn), 08.12.2006