Hintergrund
Risiko: Freigang
Es ist immer eine Schlagzeile wert, wenn ein Freigänger eine Straftat begeht. Und oft wird dann die Meinung vertreten, der Freigang sei zu leichtfertig erteilt worden, überflüssig oder gar schädlich für die Gesellschaft.
Zu den grundlegenden Erfahrungen im Bereich des Rechtswesens gehört es aber, dass Strafandrohung und -vollstreckung allein nur selten eine abschreckende oder gar eine bessernde Wirkung haben. In den USA etwa sind die Gefängnisse trotz Androhung der drakonischen Todesstrafe restlos überfüllt. Im deutschen Strafvollzugsgesetz ist daher die Resozialisierung der Täter eindeutig als Ziel formuliert.
Szene aus dem Film "Gran Paradiso"
Sicherungsverwahrung
Der Gefängnisaufenthalt soll eine erzieherische oder wenigstens sichernde Wirkung haben. Das Wegsperren der Verurteilten produziert jedoch nur eine Scheinsicherheit für einen begrenzten Zeitraum. Irgendwann kehrt der ehemalige Straftäter wieder in die Gesellschaft zurück. Zuvor wurde er im Gefängnis mit Lebens- und Überlebensregeln konfrontiert, von denen sich der Normalbürger kaum eine Vorstellung machen kann. Langjährige Studien haben gezeigt, dass die bloße Verwahrung in Justizvollzugsanstalten keine erzieherische Wirkung hat und die Kluft zwischen Straftäter und Gesellschaft sogar erweitert.
Die Grundidee des Freigangs
Nach einem längeren Gefängnisaufenthalt müssen die einfachsten Dinge – Behördengänge, Arbeitssuche, Umgang mit öffentlichen Verkehrsmitteln usw. –wieder neu erlernt werden. Gerade die Unfähigkeit, sich selbstbewusst im Alltag zurechtzufinden, führt leicht zu Resignation und sozialem Fehlverhalten bis hin zu neuen Straftaten. Aus dieser Erkenntnis entstand die Einrichtung des so genannten "Freigangs" in begrenztem Umfang. Er soll weitere soziale Entfremdung verhindern und die Gefangenen auf ihre Entlassung vorbereiten, ohne die fühlbare und verhältnismäßige Bestrafung außer Kraft zu setzen.
Jugendliche Straftäter
Insbesondere im Jugendstrafrecht sind pädagogische Maßnahmen erklärtes und oberstes Ziel, um die noch formbaren Jugendlichen wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Viele von ihnen sind straffällig geworden aus sozialer oder Wohlstands-Verwahrlosung, Perspektivlosigkeit und fehlender Erziehung durch die Eltern. Solche pädagogischen Defizite lassen sich durch Wegsperren allein nicht beheben. Das Zusammenleben mit anderen jugendlichen Straftätern führt allenfalls dazu, dass negative Lernprozesse einsetzen, soziale Defizite verstärkt und unerwünschte Verhaltensweisen überhaupt erst erlernt werden.
Szene aus dem Film "Gran Paradiso"
Pädagogische Betreuung
Um die sozialen Defizite wenigstens annähernd auszugleichen, ist eine intensive pädagogische Betreuung in Jugendstrafanstalten wichtig. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Freigang zu, der die Bereitschaft zur Resozialisierung voraussetzt und als rein moralische Fessel eine große Herausforderung an den Charakter des Freigängers darstellt. Eine Sonderform des Freigangs bilden aktiv erlebte und mit körperlicher Anstrengung verbundene Bewährungsproben in einer kleinen Gemeinschaft, in der Öffentlichkeit manchmal als "Abenteuerurlaub" missverstanden. Die daraus resultierenden Erfolgserlebnisse – auch im Sinne einer kurzfristigen Entscheidung gegen das eigene Freiheitsbedürfnis – stärken jedoch das Selbstwertgefühl und das Verantwortungsbewusstsein dieser Jugendlichen und begünstigen ihre Nachreifung.
Risiko inbegriffen
Natürlich kann nie ausgeschlossen werden, dass Freigänger ihre Entscheidungsfreiheit missbrauchen. Dieses Risiko zu tragen gehört zu den Verpflichtungen einer demokratischen Gesellschaft. Wenn aber durch diese Risikobereitschaft eine Wiedereingliederung gelingt und spätere Straftaten verhindert werden, ist es das allemal wert – für die Straftäter wie für die Gesellschaft gleichermaßen. Tausende von Freigängern kehren Tag für Tag freiwillig in die Justizvollzugsanstalten zurück. Sie sind keine Schlagzeile wert. Wohl aber ist jeder erfolgreiche Freigang ein weiterer Baustein zu einem soliden Fundament der Persönlichkeitsentwicklung und damit ein wichtiger Beitrag auch zum Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft – wichtiger als es das "Wegsperren" selbst jemals sein könnte.
Autor/in: Simone Lepetit (Rechtsanwältin), 21.09.2006