Hintergrund
Zwischen Engeln und Dämonen
Phänomenologische und kulturanalytische Überlegungen
Szenenfoto "Lost Souls" (Bildverfremdung!)
Bei Kindern ist das selbstverständlich: Sie stoßen sich an einem Tisch, und sie beschimpfen den Tisch dafür: "Du blödes Ding!" Als sei das Ding belebt. Der Erwachsene ist von dieser naiven Haltung oft auch nicht weit entfernt. Die meisten von uns haben offensichtlich noch Relikte aus der Zeit des Animismus in ihrem Stammhirn gespeichert, als die Menschen glaubten, die ganze Welt um sie sei beseelt: im Baum wohnt die Fee, in der Quelle die Nymphe.
Sinnsuche
Spätestes die Aufklärung sollte uns von dieser Überzeugung abgebracht haben. Doch der Mensch ist ein hoffnungslos spirituelles Wesen. Deshalb sind geheimnisvolle Erklärungsmodelle für das Dasein derzeit wieder einmal sehr beliebt. Zwar schwindet der Einfluss der traditionellen Religionen auf die Gesellschaft. Doch das hält das Individuum nicht von der Sinnsuche ab. Die existenziellen Fragen "Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum bin ich?" konnten weder die philosophische Aufklärung noch das naturwissenschaftliche Weltbild beantworten. Genau diese Fragen stellt sich der Mensch immer noch. Und er stellt sie verstärkt, je unübersichtlicher ihm die Welt erscheint. Globalisierung und Digitalisierung sowie ein Abrücken der Gesellschaft von bergenden Werten wie Solidarität und soziale Sicherheit führen geradewegs in eine neue existenzielle Unübersichtlichkeit hinein.
Markt der Esoterik
Die Modelle der Welterklärung sind allerdings selbst zu Opfern der neoliberalen Marktöffnung geworden. Auf Esoterikmessen werden sie in mehr oder weniger freundlicher Konkurrenz gehandelt. Dabei hat sich die Esoterik aus der ursprünglichen Geheimlehre für Eingeweihte in einen marktschreierischen Basar religiöser Angebote verwandelt. Die aktuelle Esoterik erweist sich, um kommerziell erfolgreich zu sein, als höchst religionsintegrativ. Das heißt, sie vermischt hemmungslos Sinnerklärungen aus allen Himmelsrichtungen des Glaubensspektrums.
Magie
Ein uraltes Modell ist das der "be-geisterten" Natur, in deren unsichtbarem Zwischenreich es von Geistwesen nur so wimmelt: Dämonen hier, Engel dort. Sie bedrohen den Menschen oder sie beschützen ihn. Dämonen kann man mit den Zauberformeln und Pentagrammen der "Schwarzen Magie" beschwören, die das Böse zu eigennützigen Zwecken herbeiruft. Oder man muss sie bannen, denn sie werden zum Beispiel für Krankheiten verantwortlich gemacht, vor allem für Geisteskrankheiten, die man sich nicht erklären kann.
Der faszinierende Teufel
Der Teufel als Symbolisierung für das Böse in der Welt spielt für viele Menschen wie auch für die katholische Kirche noch immer eine Rolle. Dort wird beispielsweise in einigen Fällen heute noch das "Rituale Romanum", das Formelbuch des Exorzismus und der Teufelsaustreibung benutzt. Und die Medien, von Malerei und Literatur bis zu Film und Internet, haben aus der Symbolisierung eine faszinierende Figur entwickelt. Diese Faszination ist allerdings nicht ungefährlich. Das beweisen die realen Opfer Schwarzer Messen und dämonischer Jugendkulte immer wieder. Auch die Teufelsaustreibung kann zu Exzessen führen oder sogar tragisch mit dem Tode enden, wie im Fall der Klingenberger Pädagogik-Studentin Anneliese Michel aus dem Jahr 1976.
Rückkehr der Engel
Die Rückkehr der Engel dagegen ist eine der allerjüngsten esoterischen Moden, Auf dem Markt tummeln sich zunehmend Geisterseher, die im Kontakt mit Engeln stehen wollen. Noch vor wenigen Jahren haben sie sich auf die Kommunikation mit den Geistern Verstorbener beschränkt. Inzwischen sind aus den Geistern "Geistwesen" geworden. Engel gelten als "Wesen, die in den Welten zwischen der grobstofflichen Welt des Menschen und dem Urquell aller Energie, Gott selbst, leben". So heißt es in einem Engel-Buch.
Sternbilder und Kristalle
In der Folge dieser Konjunktur werden Kurse und Workshops angeboten, in denen Engel als persönliche Helfer und Schutzgeister angerufen und herbeizitiert werden können. Integrativ, wie die moderne Esoterik ist, verknüpft sie die Engel mit anderen Erscheinungen ihrer Weltanschauung. Sie stehen dann beispielsweise zugleich für astrologische Tierkreiszeichen, Kristallschwingungen, Chakraknoten oder Aurafarben, mit denen ein Individuum dieser Anschauung gemäß verbunden ist. So werden die unterschiedlichsten Aspekte von Glaube und Aberglaube zusammengefasst zu einem esoterischen Weltmodell, das Ken Wilber, ein Vordenker der Bewegung, als "die große Kette des Seins" bezeichnet.
Glücksbringer und Amulette
Es ist freilich billig, über solche Erscheinungen die Nase zu rümpfen. Die wenigsten von uns sind ganz frei von magischen Resten. Tragen nicht viele ganz unschuldig Amulette um den Hals, "Anhängsel" (so die Übersetzung aus dem Arabischen) zur Dämonenabwehr, selbst wenn sie in der arglosen Form eines Maskottchens am Rückspiegel des Autos oder am Schlüsselbund baumeln? Und haben wir nicht umgekehrt genauso eine große Neigung zu Talismanen als Glücksbringern, hüten irgendwo ein vierblättriges Kleeblatt oder tragen eine Karpfenschuppe zur wunderbaren Geldvermehrung in der Börse? Offensichtlich fällt es schwer, nicht dem animistischen Urgedächtnis im Stammhirn zu entrinnen.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 01.01.2001