Giovanni ist Psychoanalytiker. Einer seiner Patienten wartet auf den Traum, der sein Leben bedeutet. Zuletzt, sagt der Patient, sei er im Traum durch Korridore gegangen, von einem Zimmer ins nächste. Hinter jedem Flur habe ein anderer begonnen . "Wie banal", seufzt der Patient, dann ist seine Therapiestunde zu Ende. Als er gegangen ist, öffnet Giovanni die Tür, die seine Praxis mit einer geräumigen Wohnung verbindet. Die Kamera folgt ihm durch lange Gänge, von denen Zimmer abgehen, sie legt eine Reise zurück, die vom Analytiker zum Privatmann führt.
Familienidylle als Wachtraum
Die Kamerafahrt zeugt von den Durchgangsstadien jeder Identitätsfindung, sie gleitet aus der scheinbaren Banalität der unbefragten Träume hinüber in den nicht minder trügerischen Wachtraum des Menschen Giovanni. Hinter diesen Türen wohnen seine Lieben, seine Frau Paola, seine 16-jährige Tochter Irene, sein fast volljähriger Sohn Andrea. Diese Zimmer erscheinen dem Mann, der es als "Vater der Projektionen" besser wissen müsste, unantastbar. Wie Zellen einer Wabe sind die Zimmer, ein familiärer Bienenstock, in dem der Honig der Vertrautheit gewonnen wird. Der Mann, der Mensch, der Psychoanalytiker Giovanni ist zufrieden. Seinem Sohn ist es zwar nicht wichtig, beim Tennis zu gewinnen, doch Irene hat den sportlichen Ehrgeiz ihres Vaters geerbt. An Schönheit, Esprit, Gesundheit und Geld mangelt es der Familie nicht. Nur die Kamera, der Schatten des Regisseurs, sieht weiter. In ihrem Gefolge kommt etwas Unstetes in den Film, ein beunruhigendes Gespür für den Fluss der Dinge, der vor keiner Tür halt macht. Bald darauf wird das Zimmer des Sohnes verwaist und Andrea bei einem Tauchunfall ums Leben gekommen sein.
Trauer als Obsession
Das Zimmer meines Sohnes erzählt von einer Trauer, die zur Obsession wird. Im Zimmer seines Sohnes hält der Psychoanalytiker die Zeit an. Aber selbst der Popsong, den Giovanni auf dem CD-Player von Andreas immer wieder zurückspult, spricht vom Vergehen, von dem Gefühl, etwas gewollt zu haben, ohne am Ende zu wissen, warum. Auch Giovanni möchte zurückkehren zu dem Sonntag, an dem er dem Notruf eines Patienten gefolgt ist, statt mit dem Sohn joggen zu gehen. Man könne nicht alles kontrollieren, nicht für alles die Verantwortung übernehmen, erklärt der Analytiker seinen Patienten. Doch er selbst kann den Zufall, der ihm den Sohn raubt, nicht akzeptieren.
Schuldgefühle
An Schicksal mag Giovanni nicht glauben, nur an Schuld und Versäumnis. Die Tröstungen der Metaphysik sind ihm fremd. Im Zimmer seines Sohnes, das auch der Aufbahrung des Toten dient, steigern sich die Hammerschläge, mit denen die Schrauben in den Sargdeckel getrieben werden, zum Stakkato der Endgültigkeit. Die bedrückend stille Szene steht in auffälligem Kontrast zu vielen italienischen Filmen, in denen angesichts des Todes das Ritual der Beweinung einsetzt, eine Darstellung des Schmerzes anstelle des Schmerzes selbst, die etwa bei Altmeister Vittorio de Sica ein Bekenntnis zum öffentlich gemachten Leiden ist.
Der Regisseur als Therapeut
Nach all den Filmen, in denen Nanni Morettis autobiographisch gefärbte Figuren sich als komische Weltverbesserer und tragische Menschheitserzieher mit Gott und der Welt herumschlugen, wagt Moretti den Abschied von lieb gewonnenen Don Quichotterien. Auch die Wut, mit der er als cineastischer Missionar über die Unbelehrbaren kam, nicht ohne Seitenhiebe auf die eigenen Verdrängungstechniken, zeigt sich gemildert. Nur in den traumhaften Lösungen, die Giovanni-Nanni für seine Patienten findet, kann man noch die alte Schalkhaftigkeit entdecken. In seinen Fantasien entpuppt sich der Regisseur als Therapeut: Einer Kontrollwahngeplagten empfiehlt er schon mal, ihren Zwängen doch im Laufschritt davonzurennen. Mit dem Sohn stirbt auch diese fröhliche Wissenschaft.
"Grenzerfahrungen"
Dennoch ist
Das Zimmer meines Sohnes kein pessimistischer Film. Am Ende wird sich die Familie mit Andreas Ferienliebe Adriana und deren neuem Freund auf eine Reise begeben. Bis zur französischen Grenze bringen sie die beiden, doch eigentlich ist es die Grenze der Leidensfähigkeit, an die alle Familienmitglieder gelangen. Überschreiten werden Giovanni, Paola und Irene diese Barriere nicht. In einem Film, der weitgehend von Metaphern absieht, um die konkrete Wucht des Schmerzes nicht unter dem Bildervorrat einer metaphysischen Trauerkunst zu verdecken, muss das Herantasten an das Land hinter dem Leid umso symbolmächtiger ausfallen. Unspektakulär und von diesseitiger Größe sind die Mittel, mit denen er die tiefsten Eindrücke hinterlässt. Wundersam ist einzig, wie aus der Geschichte eines Todes sein Kino neu geboren wurde.
Autor/in: Heike Kühn, 01.12.2001