Kinofilmgeschichte
Tod und Sterben
Der müde Tod
Mit dem Traum wird das Kino oft verglichen. Es kann alle Kunstwelten herstellen, die auch der Schlaf bereit stellt. Doch Schlafes Bruder ist für das Kino fast genauso wichtig: der Tod. Jean Cocteau hat einmal gesagt, filmen hieße, dem Tod bei der Arbeit zuschauen. Was hat er gemeint? Der Film ist ein Medium, das sich nur im Lauf der Zeit realisiert: 24 Bilder durchlaufen den Projektor in einer Sekunde. Genauso realisiert sich der Tod durch die Zeit. Jede Sekunde (24 Bilder) kommt er dem Menschen näher.
Hinter dem Horizont
Der Tod persönlich
Das Kino beschwört den Tod. Er tritt in Filmen persönlich auf, z. B. in Der müde Tod von Fritz Lang (1921), in Das siebente Siegel von Ingmar Bergman (1956) oder in Rendezvous mit Joe Black von Martin Brest (1998) – Brad Pitt ist allerdings der unglaubwürdigste Tod, der je vor einer Kamera stand. Das Kino zeigt uns die Jenseitswelten, von denen Mythen und Religionen erzählen: als kühle Ruinenlandschaft in Cocteaus Orphée (1949), als muffiges Büro in Jean Delannoys Das Spiel ist aus (1947), als kitschiges Malerparadies und surreale Hölle in Vincent Wards Hinter dem Horizont (1998).
Ein kurzer Film über das Töten
Das Töten im Film
Meistens handelt das Kino vom Töten. Der Akt des Tötens ist Bestandteil vieler Kunstfilme und der meisten Genrefilme, seien es Western, Krimis, Horrorfilme, SF-Filme, Actionfilme, Kriegsfilme sowieso. Dabei ist das Töten im Film hauptsächlich kurz und für den Zuschauer schmerzlos. Im modernen Actionfilm ist es oft so maßlos vergrößert oder in die Vielzahl multipliziert, dass es aus der Realität fällt und als Unterhaltung genossen wird. Wenn einer die unausgesprochene Vereinbarung zwischen Filmproduktion und Zuschauer, dass das Töten im Film unauffällig oder grotesk zu sein habe, durchbricht und das Töten in seiner ganzen brutalen Dauer und Anstrengung vorführt, ist das Publikum irritiert und meist wenig amüsiert. Alfred Hitchcock hat in
Der zerrissene Vorhang und
Frenzy das Töten als Arbeit gezeigt. Noch gnadenloser war Krzysztof Kieslowski in
Ein kurzer Film über das Töten. Der Mord an einem Taxifahrer und die Hinrichtung des Mörders wurden mit gleicher Genauigkeit und Unerbittlichkeit gefilmt. So wurde das Töten für den Zuschauer zur Qual.
Sterben wird verdrängt
Die Qual war deswegen so groß, weil mit dem Töten das Sterben bewusst gemacht wurde. Wenn Filme vom Töten handeln, handeln sie zugleich vom Sterben. Doch das lässt der Zuschauer ungern an sich heran. Das Sterben im Film ist immer ein Fingerzeig auf den bevorstehenden Tod jedes einzelnen Zuschauers. Gedanken an den eigenen Tod aber verdrängen die Menschen derzeit noch mehr als früher. Ein Zeichen dafür ist, dass man die Verstorbenen am liebsten mit Pomp von Firmen entsorgen lässt, ohne sich selbst an die Trauerarbeit zu machen. Tony Richardsons zynische Filmsatire Tod in Hollywood hat schon 1964 auf diese Haltung verwiesen. Die Situation am Grab kann zusammen mit den ungeklärten Bindungen an den Toten individuelle wie familiäre Krisen auslösen. Patrice Chereau hat das in Wer mich liebt, nimmt den Zug (1998) rücksichtslos analysiert.
Antonias Welt
Das große Abweinen
Trotz der Distanz der Menschen zum eigenen und zum Tod der anderen gehört es zu den sozialen Aufgaben des Kinos, die Zuschauer genau damit zu konfrontieren und imaginäre Modelle zu entwickeln, wie damit umzugehen sei. Auf diese Weise leistet das Kino Sozialtherapie. Das kann auf einem sehr banalen Niveau passieren, wenn es Geschichten zum Abweinen der eigenen Ängste anbietet. Dann gerät das Sterben zum Unterhaltungsstoff scheinhaft aufgeputschter Emotionen, deren Erregungsgrad sich am Taschentuchverbrauch messen lässt. Beispiele dafür sind Love Story (großer Abschied von der großen Liebe), Zeit der Zärtlichkeit (tapfer ertragener Krebstod) oder Who Will Love My Children? (melodramatische Suche um Leiheltern für hinterbleibende Kinder).
Zeit des Abschieds
Solche Filme zelebrieren den endgültigen Abschied als Attraktion der Rührseligkeit. Doch das bewusste Abschiednehmen in der Gewissheit des nahen Todes ist ein zu ernstes Thema für ein derart spekulatives Verfahren. Es gibt andere, herausragende Filme dazu, sei es
Ikiru (1952) von Akira Kurosawa über einen Mann, der nach der Diagnose Krebs nach einem Sinn für sein Leben sucht, sei es
Wilde Erdbeeren (1957) von Ingmar Bergman über die letzte Reise eines alten Mannes zum Triumph einer Preisverleihung und zu den Stätten der Vergangenheit, sei es
Antonias Welt (1995) von Marleen Gorris über das positive Lebensresümee am Sterbetag einer starken Frau. Eine Umkehrung dieser Erwartungen des Sterbens ist das Festhalten an den Lebenslügen des erfolglosen Vertreters Willy Loman in Volker Schlöndorffs
Der Tod eines Handlungsreisenden (1985). Erst der Tod befreit ihn aus dem Netz.
Ponette
Trauerarbeit
Hier sind es die Sterbenden selbst, die ihren Abschied vorbereiten. Genau so schwer haben es aber die Überlebenden, sich auf den Tod nahestehender Personen einzustellen oder ihn zu verarbeiten. Von solchen Menschen handeln auf jeweils stille und intensive Weise Filme wie Bertrand Taverniers Daddy Nostalgie (1989), Takeshi Kitanos Hana-Bi (1997), oder Paul Harathers Indien (1993). Besonders mühsam ist es für Kinder, die Trennung durch den Tod zu begreifen und zu bewältigen. Eine ganze Reihe von Filmen, seien es Märchen wie Kalle und die Engel (1993), seien es poetisch-realistische Skizzen wie Ponette (1998) von Jacques Doillon hilft ihnen dabei.
Die Farbe des Todes
Der Tod im Kino trägt viele Masken. Er kann so radikal sein wie das Schicksal der jungen Frau in Wild at Heart (1990) von David Lynch. Sie ist Opfer eines Autounfalls. Verzweifelt sucht sie ihre Handtasche. Dann ist sie tot. Eine Szene, die in die Haut schneidet, weil der Tod abrupt auf die hilflose Angst folgt. Das Sterben kann filmisch noch radikaler sein wie in der großen Bilderverweigerung, mit der Derek Jarman sein eigenes Sterben an Aids zum Kinostoff gemacht hat. Blue (1993) zeigt nur noch Blau auf der Leinwand. Worte, Geräusche verstummen. Der Tod tritt ein. Der Zuschauer kommt noch einmal davon. Aber nicht mehr lange.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006