Eigentlich hätte
On the Edge gar nicht in einer psychiatrischen Klinik spielen müssen. Die jugendlichen Protagonisten des Films leiden weder an einer schweren psychischen Deformation noch laufen sie Gefahr ihrer Umwelt Schaden zuzufügen. In der Anstalt untergebracht sind sie "nur", weil sie suizidgefährdet sind. Das unterscheidet sie nicht unbedingt von anderen Jugendlichen von hoher Sensibilität. Wenn Regisseur John Carney den überwiegenden Teil der Handlung dennoch in einer Anstalt spielen lässt, ist das natürlich kein Zufall. Die übersichtliche Personenkonstellation in der Klinik erlaubt es ihm, seine Botschaft kompakt und kinogemäß zu erzählen: die Anstalt als Spiegelbild einer jugendlichen Welt in Aufruhr.
Sinnfragen
Der 19-jährige Jonathan, nach dem Tod der Mutter mit seinem älteren Bruder beim Vater aufgewachsen, stürzt nach dem Freitod des Vaters in eine existenzielle Krise, an dessen Ende ein Selbstmordversuch steht. Weniger aus Verzweiflung als aus Orientierungslosigkeit fährt Jonathan mit einem Auto über die Klippen – und überlebt. Keine diffuse Todessehnsucht steht hinter der eher spontan ausgeführten Tat, als vielmehr die unbeantwortete Frage, warum und wozu man denn lebt.
Wesensverwandte
Jonathan entscheidet sich nach einem Krankenhausaufenthalt gegen das Gefängnis und für einen dreimonatigen Aufenthalt in der psychiatrischen Anstalt. Dort lernt er den Arzt Dr. Figure und ein halbes Dutzend gleichaltrige Patienten kennen, von denen der Film zwei Jonathan wesensverwandte junge Menschen näher vorstellt: Der junge Tobey kommt über den Unfalltod seines Bruders nicht hinweg, das Mädchen Rachel wird mit dem Verlust der Mutter nicht fertig.
Behutsame Annäherung
On the Edge schildert die kurzen Ausbruchsversuche der drei sich anfreundenden Patienten, die heimlichen Besuche im Pub, die gemeinsamen Ausflüge zur Bowlingbahn, die Therapiestunden. Carney registriert behutsam die vorsichtigen Annäherungsversuche der jugendlichen Protagonisten, beschreibt die mühseligen Versuche des Psychiaters, den jungen Menschen ein Gefühl für die positiven Dinge des Lebens zu vermitteln.
Autoaggressionen
Dabei wird Dr. Figure immer wieder mit den Provokationen Jonathans konfrontiert. Hin- und hergerissen zwischen Aufruhr und der Suche nach einem Platz im Leben, stellt sich Jonathan die Sinn-Frage. Da es sich bei den Jugendlichen um äußerst sensible (und man muss wohl auch sagen: um höchst sympathische und daher kinotaugliche) Persönlichkeiten handelt, richten sich die aus dem Verlust entstandenen Irritationen und Aggressionen gegen das eigene Ich, die Psyche, oder – im Falle von Rachel – gegen den eigenen Körper.
Auf Leben und Tod
Der Mangel an sozialer und persönlicher Erfahrung verhindert ein selbstreflektiertes Verhalten. Hilfe von außen wird zunächst nicht akzeptiert, weder von therapeutischer Seite noch von den jugendlichen Mitpatienten innerhalb der Gruppe. Erst am Ende deutet sich – zumindest bei Rachel und Jonathan – ein positiver "Krankheitsverlauf" an: Ob das nun auf die (vor allem im Kino) vielbeschworene "Kraft der Liebe" oder auf die einfache Erkenntnis zurückzuführen ist, dass Selbstmord den geliebten Menschen auch nicht wieder zurückbringt, lässt der Film freilich offen. Rachel und Jonathan überleben am Ende. Tobey hingegen, der sich ebenfalls in Rachel verliebt hat, sieht keinen Ausweg aus dem subjektiv erfahrenen persönlichen Dilemma und bringt sich um.
Keine einfachen Erklärungsmuster
Eine der größten Stärken des Films ist, dass er auf einfache Erklärungsmuster verzichtet. Der Film ist eher eine sensibel in Szene gesetzte Jugendstudie als die Halbwüchsigen-Variante von
Einer flog übers Kuckucksnest. Die Protagonisten sind nicht "verrückt" im klassischen Kino-Sinn, weder schizophren noch geistig behindert. Sie leiden vielmehr an "normalen" Ängsten und Schwierigkeiten vieler Heranwachsender. Um das zu erzählen, bemüht Regisseur Carney folgerichtig auch kaum den vielbeschworenen Vergleich mit der 'normalen' Welt. Bis auf kurze Sequenzen in Pub und Bowlingbahn bleibt die 'reale' Welt im Film ausgeklammert.
On the Edge stellt also nicht die so oft strapazierte Frage: "Wer ist denn nun eigentlich verrückt, die in der Psychiatrie oder die da draußen?". Das kommt dem Film zweifelsohne zugute. Indem Carney künstlich anmutende, bemühte Vergleiche mit der Außenwelt ausspart und auf alle spekulativen, schrillen und drastischen "Verrücktenszenen" verzichtet, gelingt es dem Regisseur, die gerade bei diesem Thema so häufig verwendeten Klischees zu vermeiden.
Jugendliche Gefühlswelten im Mittelpunkt
So rücken die jungen Darsteller ins Zentrum des Films, ihre Probleme, Ängste und Nöte. Carney konnte dabei auf eine außerordentlich begabte Darstellerriege zurückgreifen: sie sind – neben der behutsamen Regie – in erster Linie dafür verantwortlich, dass
On the Edge ein eindringlicher und vor allem glaubhafter Film zum Thema "Special Men" geworden ist.
Autor/in: Jochen Kürten, 01.05.2002