Hintergrund
Land im Spagat – Impressionen aus Vietnam
"Heldenfriedhof" aus dem Krieg gegen Amerika (Foto: Herbert Heinzelmann)
Über Alden Pyle, den "stillen Amerikaner", schreibt Graham Greene einen bezeichnenden Satz: "Ich habe nie jemanden gekannt, der für all das Unheil, das er angerichtet hat, bessere Motive besaß." Es ist ein Satz, der auf viele Amerikaner und auf viele Taten Amerikas zutrifft. In bestem Glauben an das Gute richten sie Schaden an.
Ho-Chi-Minh-Denkmal vor dem Rathaus von Saigon (Foto: Herbert Heinzelmann)
Unter Kolonialherrschaft
Das militärische Engagement der USA in Vietnam zwischen 1965 und 1973 und ihre beinahe legendäre Niederlage sind nur ein besonders grelles Fanal für dieses Phänomen. Es setzte den Schlusspunkt hinter viele Jahrzehnte entmündigender Kolonialherrschaft. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts dominierten die Franzosen das Land. Zwischen 1940 und 1945 war es von Japanern okkupiert. Nach deren Vertreibung rief Ho Chi Minh, der Führer der Kommunistischen Partei und der militanten Widerstandsbewegung Viet Minh, die demokratische Republik Vietnam aus. Doch die Franzosen kamen zurück und wurden nach langem Guerilla-Krieg erst 1954 vertrieben. Das Land wurde in zwei Militärzonen geteilt. Die nördliche mit der Hauptstadt Hanoi entwickelte sich zur Volksrepublik, in der südlichen mit der Hauptstadt Saigon unterstützten die Amerikaner ein scheindemokratisches Marionettenregime, zuerst mit Militärberatern, dann mit GIs.
Herstellung von Reispapier (Foto: Herbert Heinzelmann)
Pepsi ist "back"
Jetzt sind sie wieder da. Jetzt könnte Alden Pyle sein missionarisches Sendungsbewusstsein in der seit 1976 wiedervereinigten Sozialistischen Republik Vietnam neuerlich ausleben, diesmal auf dem Gebiet der Ökonomie. 1994 fiel das amerikanische Wirtschaftsembargo gegen die ehemaligen Sieger im Krieg mit der stärksten Weltmacht. Seitdem geben internationale Bankenkonsortien Kredite und Internationale Markenzeichen, wie Pepsi und Coca Cola, verdeutlichen den Einfluss der Globalisierung. Nun gehört Vietnam zu den asiatischen Boom-Ländern. 2001 gab es ein Wirtschaftswachstum von 7,1 Prozent. Das klingt nach viel Licht. Doch auch die Schatten werden länger.
Zweirad-Pulk auf einer Fähre (Foto: Herbert Heinzelmann)
Doi Moi – der wirtschaftliche Neubeginn
In dem sozialistischen Land ist jetzt Not sichtbar. Soziale Unterschiede liegen überall offen. Vietnam gehört zu den Staaten, die wirtschaftliche Reformen mit der Beibehaltung eines politischen Systems der Ein-Partei-Herrschaft kombinieren wollen. 1986 wurde eine radikale ökonomische Erneuerung beschlossen. Sie nennt sich Doi Moi und setzt auf die private Produktion von Nahrungsmitteln und Konsumgütern, statt auf Staatseigentum und Industrialisierung. Zugleich öffnet sie sich ausländischem Kapital.
Der chinesische Markt in Saigon (Foto: Herbert Heinzelmann)
Die Sucht nach Zweirädern
Deshalb wächst über Saigon, das offiziell Ho-Chi-Minh-City heißt, die Skyline. Internationale Wirtschaftsmacht lässt sich gern von Hochhäusern repräsentieren. Die Stadt röhrt und hupt. Alle Städte in Vietnam röhren und hupen. Die Zweiradsucht ist ausgebrochen. Mopeds, kleine Motorräder und immer noch viele Fahrräder scheinen wie in einem ununterbrochenen Strom in den Straßen zu stehen. Die Gehsteige sind zugeparkt. Noch durch engste Gassen und zwischen Marktständen zwängt man sich mit dem Moped.
Arbeit im Reisfeld (Foto: Herbert Heinzelmann)
Markt ist überall
Markt ist fast überall. Schon immer wollten die Vietnamesen eigenständig sein, Geschäfte machen. Jetzt sind die meisten dazu gezwungen. In sieben, acht Häusern nebeneinander werden Nudelgerichte gekocht und kleine Speisen in Reispapier serviert, wird Bier ausgeschenkt, Kaffee oder Tee zubereitet. In den nächsten Häusern warten Friseure auf Kunden. Hauptsache, man kann irgend etwas verkaufen, irgend eine Dienstleistung anbieten. Besonders glücklich ist derzeit, wer einen Zweiradhandel betreibt.
Abgründe zwischen den Klassen
Trotz beibehaltener sozialistischer Ideologie gähnt ein neuer Abgrund zwischen den Klassen. Die Bauern können staatlichen Grundbesitz zwar nicht kaufen, aber langfristig pachten; sie haben Chancen zum Reichtum. Vietnam ist der zweitgrößte Reisexporteur der Welt, auch in der Ausfuhr von Kaffee liegt es an vorderster Stelle. Hier winkt Profit, obwohl die Handelsbilanz nicht ausgeglichen ist. Man muss zu viele Rohstoffe importieren. Auf der anderen Seite fallen die aus dem sozialen Netz, die früher seine ersten Nutznießer waren: Beamte, Soldaten, Staatsangestellte. Viele Staatsbetriebe werden geschlossen, viele Soldaten aus der Armee entlassen. Die Menschen stehen auf der Straße. Arbeitslosigkeit breitet sich aus. Offiziell werden Zahlen zwischen sechs und sieben Prozent zugegeben. Tatsächlich dürfte jeder Dritte in Vietnam ohne ausreichende Entlohnung sein.
Meeresfrüchte auf einem Markt von Hanoi (Foto: Herbert Heinzelmann)
Die Kriminalität wächst
Es geht aufwärts und abwärts zugleich. Das staatliche Bildungswesen, das Gesundheitswesen – Einrichtungen, die einmal auf hohem Niveau standen – verfallen, weil der Staat seine Lehrer und Ärzte schlecht bezahlt. Private Institute werden eröffnet. Schon grassiert bei den Vietnamesen die Meinung, nur in Privatschulen werde man gut genug ausgebildet. Aber die können sich die wenigsten leisten. Und der Staatsapparat wird zunehmend korrupt. Schlecht dotierte Polizisten halten die Hände auf und übersehen die Delikte. Die Kriminalität wächst.
Luxusgüter und Parolen
In Supermärkten und Einkaufszentren sind Luxusgüter im Angebot. Doch an der Ampel vor dem Konsumpalast klingen politische Parolen aus großen Lautsprechern. Neben grellen Lichtreklamen gibt es noch die Plakate, die mit den typisierten Köpfen von Arbeitern, Intellektuellen und Krankenschwestern den Aufbau des Sozialismus beschwören. Die Sozialistische Republik Vietnam ist ein Land im politischen und ökonomischen Spagat. Besser gesagt: in einer Zerreißprobe. Viele Menschen sind optimistisch. Aber aus genauso vielen Gesichtern ist das vietnamesische Lächeln verschwunden.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006