3. Europäisches Filmfest Stuttgart Ludwigsburg 2003
Die Themen Migration und Grenzgänger in den Wettbewerbsfilmen
Occident
Die kulturelle Vitalität, Vielfalt und die Geschichte Europas zu zeigen hat sich das seit 1999 alle zwei Jahre stattfindende neue Europäische Filmfest Stuttgart Ludwigsburg, dessen Mittelpunkt in Stuttgart aus einem Spielfilmwettbewerb besteht, zur Aufgabe gemacht. In der Konzentration auf europäische Filme liegt eine große Chance, ermöglicht sie doch einen unmittelbaren Vergleich der in Europa gerade aktuellen Filmstoffe und Filme, die später bestenfalls als Ausnahme europaweit in die Kinos kommen. Besonders augenfällig in diesem Jahr: Über ein Drittel der Wettbewerbsfilme handelte von den Themen Migration und Grenzgänger.
Fureur
Überall, nur nicht hier
Alle wollen sie weg aus Rumänien, irgendwie und fast egal, unter welchen Umständen: In seiner schwarzen Komödie Occident verwebt Christian Mungiu drei Geschichten kunstvoll miteinander, die sich täglich so in seinem Land ereignen könnten. Die jeweiligen Protagonisten stehen bzw. geraten gleichwohl miteinander in Beziehung, so dass der gesamte Handlungsfaden erst am Ende der drei Geschichten deutlich wird. Da sind zwei Verlobte, die ihre Wohnung verlieren und vorübergehend in der Einzimmerwohnung der Tante Unterschlumpf finden. Bei einem Friedhofsbesuch fällt dem Mann eine Flasche auf den Kopf – wer sie geworfen hat, erfährt man erst später. Ein zufällig vorbeifahrender Franzose hilft der Frau und wird zu ihrer Projektionsfläche. Sie malt sich aus, das Land mit ihm verlassen zu können. Die anderen beiden Episoden handeln von einer Frau, die eigentlich Schriftstellerin werden möchte, sich aber mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und nun vor der Alternative steht, mit einem dunkelhäutigen Afrikaner nach Italien zu ziehen oder zuhause allein zu bleiben. Während die Mutter ihre Tochter um jeden Preis verheiraten möchte, sucht der Vater, ein pensionierter Polizist, der in der dritten Geschichte mit ehemaligen Flüchtlingen aus seiner Vergangenheit zur Zeit des Eisernen Vorhangs konfrontiert wird, dies zu verhindern.
Hop
Culture Clash im Boxring
Der in Frankreich aufgewachsene Tunesier Karim Dridi erzählt in Fureur/Wut eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte vor dem Hintergrund der Begegnung verschiedener Kulturen im Chinesenviertel von Paris. Dort leben auch die Brüder Raphael und Manu als Söhne spanischer Einwanderer. Während Raphael seine Boxerkarriere aufgeben musste, um die Autowerkstatt seines von ihm sehr verehrten verstorbenen Vaters weiterzuführen, verbucht Manu erste Erfolge als Thai-Box-Champion. Das Leben der Brüder gerät aus den Fugen, als sich Raphael in die Chinesin Chin verliebt, die bereits mit dem zwielichtigen Sohn eines einflussreichen chinesischen Geschäftsmannes verlobt ist, und Chins ohne Papiere eingereister Bruder bei einem illegalen Boxkampf auf Leben und Tod gegen Manu antreten muss. Kulturelle Gegensätze werden hier – unter jungen Männern – buchstäblich mit Händen und Füßen ausgetragen und selbst Geld und Einfluss der älteren, besonnenen Generation vermag diese Gegensätze und den Kreislauf von Wut und Rache nicht zu übertünchen oder gar zu beenden. Dieses soziokulturell erklärte, eher dumme Verhalten der Männer – und das nicht thematisierte Schweigen der Frauen – bewirkt eine nicht unbedingt gewollte Distanz zu den Figuren und zu Dridis viertem Spielfilm, der ansonsten auf hohem handwerklichen Niveau sauber und spannend, wenn auch nicht ohne Klischees und überzufällige Konstruktionen erzählt ist. Die Jury sprach diesem Werk den Verleihpreis zu, so dass es demnächst auch in die deutschen Kinos kommen dürfte.
Lilya 4-Ever
"Asylanten-Terror"
Handwerklich nicht so elegant ausgearbeitet wie Dridis Film, dafür in der Brisanz des Themas aber um Längen gewagter ist der belgische Film Hop von Dominique Standaert über Justin und seinen Vater, die als illegale Flüchtlinge aus Burundi in Brüssel leben. Gleich zu Beginn erzählt der Junge vor seiner Schulklasse ausführlich, es sei allein den Pygmäen zu verdanken, dass Hannibal seinerzeit die Alpen mit Elefanten überqueren konnte, die nur durch einen Trick der Pygmäen (den Hop) zähmbar waren. Dieser Mythos durchzieht den Film wie ein roter Faden und gibt auch seine Leseweise als modernes Märchen vor. Und das ist auch nötig, denn nachdem die beiden Illegalen durch Nachbarn aufgeflogen sind, wird der Vater verhaftet und gesetzwidrig abgeschoben. Nur Justin kann fliehen und findet Zuflucht bei einem mürrischen Eigenbrötler, der in seinen anarchistischen Zeiten Sprengstoffanschläge verübt hatte. Das bringt den Jungen auf den Gedanken, das Bleiberecht für sich und seinen Vater gegenüber den Behörden zu erpressen, wobei freilich selbst im Märchen weder mit Sprengstoff noch mit Antiterroreinheiten der Polizei zu spaßen ist. Eine gefährliche Gratwanderung, die leicht den gegenteiligen Effekt beim Publikum haben kann und nur deshalb sehenswert bleibt, weil Standaert seine Geschichte ganz parteiisch aus der Perspektive des Jungen und seiner Beziehung zu Vater und Ersatzvater erzählt, mehr als Komödie denn als Drama, und ein versöhnlicher Schluss für alle Beteiligten noch einmal die Irrealität der Ereignisse unterstreicht.
Geheimnisse
Vom Regen in die Traufe
Gut gemacht, hervorragend gespielt (Darstellerpreis für Oksana Akinshina) und erschütternd authentisch der wohl beste Film des Wettbewerbs,
Lilja 4-Ever von Lukas Moodysson (
Raus aus Amal), der bereits nach seiner Uraufführung in Venedig 2002 einen deutschen Verleih gefunden hat (Kinostart: 27. November 2003). Die Titelfigur Lilja ist 16 Jahre alt und lebt in einem trostlosen Vorort irgendwo in Russland. Sie hofft, mit der Mutter und deren Freund in die USA ausreisen zu können. Doch die Mutter lässt ihre von Geburt an unerwünschte Tochter alleine zurück. Eine Tante, die sich um sie kümmern soll, bringt sie in einer billigen Absteige unter und reißt sich die bessere Wohnung selbst unter den Nagel. Da sich auch das Sozialamt nicht zuständig fühlt, weiß Lilya bald nicht mehr, woher sie das Geld zum Essen nehmen soll. Von einer Schulkameradin bekommt sie den Tipp, es wie sie mit "Liebesdiensten” zu versuchen, wird dann von dieser aber denunziert und öffentlich als billige Prostituierte abgestempelt. Lilyas einziger Freund ist der 13-jährige Volodja, für den sie ältere Schwester und zaghaft Geliebte zugleich ist. Als sie den Versprechungen eines jungen Mannes Glauben schenkt und für eine gemeinsame Zukunft vorab alleine nach Schweden reist, bricht für Volodja eine Welt zusammen. Aber auch Lilya hatte sich die Freiheit im Westen ganz anders vorgestellt, als in einem Tag und Nacht verschlossenen Zimmer auf Freier zu warten. Moodysson setzt das schmutzige, brutale und gefühllose Geschäft mit der "Ware" Mensch, besonders mit jungen Frauen aus dem Osten, so unspekulativ wie sensibel und zugleich schonungslos in Szene. Über die Gefühlswelt seiner beiden Helden und mit ausdrucksstarken Bildern zwischen Sozialrealismus und Poesie verdeutlicht er, warum gerade junge Menschen unter bestimmten Voraussetzungen eine leichte Beute für solche Menschenhändler werden und wie sie auf eine Welt reagieren, in der zwischenmenschliche Werte nichts mehr zählen.
Geschichten am Rande
Das Thema Migration findet sich am Rande auch noch in dem schrägen tschechischen Roadmovie Výlet/Geheimnisse von Alice Nellis, das sich nebenbei auch über die Absurditäten und Standesdünkel nach der Grenzziehung zur Slowakei lustig macht. Im Mittelpunkt der mitunter etwas langatmig und schwerfällig erzählten Geschichte steht indes die hindernisreiche Reise einer drei Generationen umspannenden Familie von der Tschechischen in die Slowakische Republik, um dort die Urne des verstorbenen Vaters zu beerdigen. Kaum am Zielort angekommen, den die Großmutter nur mit Mühe noch als ihren früheren Heimatort wiedererkennt, nähert sich eine Gruppe von Asiaten nervös den Reisenden im Cafe und einer von ihnen fragt sie auf deutsch, ob sie denn nun endlich in Deutschland seien. Von ihren Schleppern offenbar im Stich gelassen, geht der Film allerdings auf das weitere Schicksal dieser Flüchtlinge nicht weiter ein, verdeutlicht andererseits die Alltäglichkeit solcher grotesk wirkenden Szenen, die möglicherweise bald zu einem Topos in vielen Filme aus Osteuropa werden könnten.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006