37. Internationale Hofer Filmtage 2003
Die Kinder sind tot
Unter rein künstlerischen Gesichtspunkten braucht man sich über den deutschen Filmnachwuchs, der in Hof traditionsgemäß eine starke Plattform findet, keine Sorgen zu machen. Viele der Filme überzeugten durch ungewöhnliche Erzählstile und unkonventionelle Themen. Etwas anders sieht es immer noch mit der wirtschaftlichen Tragfähigkeit aus, aber auch hier dürften einige Werke ihren Weg ins Kino finden. Zusammen mit dem internationalen Programm ist es Festivalleiter Heinz Badewitz mit seiner Filmauswahl gelungen, gegenwärtige und länderübergreifende Zeitströmungen einzufangen. Etwas zu Lachen gab es diesmal nur in wenigen Filmen, viele von ihnen beschäftigten sich mit existenziellen Themen, mit dem Tod, der Frage nach dem Sinn des Lebens und – über den Blick auf Randgruppen – mit dem Zustand der Gesellschaft.
Nitschewo
Böse Zellen
Das geht mich doch nichts an!
Einer der wichtigsten Filme des Festivals war zweifellos die Dokumentation
Die Kinder sind tot von Aelrun Goette. Im Sommer 1999 verdursteten in Frankfurt/Oder zwei kleine Jungen. Deren Mutter Daniela hatte sie 14 Tage allein in einer Neubauwohnung eines großen Wohnblocks zurückgelassen, um sich nach vier gescheiterten Beziehungen, die jeweils zu einem Kind geführt hatten, ganz ihrer neuen Liebe zu widmen. Daniela wurde wegen Doppelmordes zu lebenslanger Haft und von der Öffentlichkeit als alleinschuldige Rabenmutter verurteilt. In Interviews mit Daniela und ihrer Mutter, mit Mitarbeiterinnen des Jugendamtes und mit betroffenen Nachbarn, die lange weggesehen haben oder meinten, das ginge sie alles nichts an, gelingt es der Regisseurin, die Ereignisse in einem ganz anderen Licht zu zeigen. Sie zeigt das Bild einer mit vier Kindern sichtlich überforderten Frau, die ihrer Mutterrolle nicht mehr gewachsen war und dafür von der Gesellschaft hart bestraft wurde. Die Solidarität unter Frauen und Müttern ist offenbar sehr brüchig, das Wohlergehen von Kindern immer noch reine Privatsache und die Männer verweigerten für diesen Film bezeichnenderweise jede Aussage. Nach der deutschen Vereinigung
Nitschewo von Stefan Sarazin spielt 1993 in einem kleinen Ort an der ehemaligen "Zonengrenze" und erzählt in eindrucksvollen, zwischen emotionalem Stillstand und Schock oszillierenden Bildern von den seelischen Verletzungen, die der Eiserne Vorhang bei den Menschen hinterlassen hat. Jim und Elise sind ein Liebespaar, doch ihre Beziehung leidet unter der öden Umgebung. Jim fühlt sich doppelt heimatlos, denn er hat auch seinen Vater nie kennen gelernt. Als er seinen geistig behinderten Freund durch einen tragischen Unfall auf der Landstraße tötet, versinkt er in tiefe Depression. Ein angereister Amerikaner, der sich später als emigrierter tschechischer Filmemacher entpuppt, beginnt sich zwar für Jims Leben zu interessieren, stürzt diesen aber in ein Wechselbad aus Geschmeichelt-Sein und Sich-ausgenutzt-Fühlen. – Während Sarazins Helden ihre pessimistische Grundstimmung nie überwinden, wandelt sie sich in Michael Schorrs Film
Schultze gets the Blues in eine anrührende, unterhaltsame und verhalten optimistische Geschichte über einen beleibten Bergarbeiter und Akkordeonspieler aus Sachsen-Anhalt, der mit anderen Kumpels in den Vorruhestand geschickt wird. Was sich zunächst wie ein stilles und mit dokumentarisch geschultem Blick beobachtetes Sozialdrama gibt, das seinen Witz aus den absurden Situationen der ihrer Alltagsroutine beraubten Männer bezieht, entwickelt sich in der zweiten Hälfte zu einem "amerikanischen" Roadmovie, als Schultze von seinem Heimatmusikverein nach Amerika geschickt wird und sich damit einen Traum verwirklichen kann. In den Sümpfen von Louisiana entdeckt er seinen "Unruhestand", entlockt seinem Akkordeon ganz "undeutsche" Klänge und begegnet vielen interessanten Menschen, aber auch dem Tod.
Osama
Chaos und Ordnung
Selbst im größten Chaos existiert in der Forschung noch ein gewisses Maß an Ordnung und Gesetzmäßigkeit. In zwischenmenschlichen Beziehungen entsteht aus diesem Sachverhalt das Bedürfnis nach Überzufälligkeit und der bewussten Suche nach Zusammenhängen. Die Österreicherin Barbara Albert zeigt in
Böse Zellen solche Beziehungen, die in ein Netz von Ursache und Wirkung verstrickt sind und auf der Suche nach Glück auch in Schuld, Leiden und Tod führen. Ausgangsperson der manchmal wie ein Krebsgeschwür wuchernden Beziehungskonstellationen ist die einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes. Albert erhebt das Chaos auch formal zum Montageprinzip ihres Films, stellt Esoterisches und Übernatürliches neben therapeutische Sitzungen, Freizeitverhalten und Berufsalltag der Figuren. Die Ordnung entwickelt sich erst in der Gesamtschau dieses bemerkenswerten Films. – Das Rationale mit dem nicht Erklärbaren und rein Gefühlsmäßigen weiß auch die Kanadierin Manon Briand in ihrem Film
La Turbulence des Fluides/Chaos and Desire spannend zu verbinden. Sie erzählt die Geschichte einer Seismologin, die ihr inneres Chaos mit ihren beruflichen Forschungen zu bekämpfen sucht. Allein mit wissenschaftlichen Erkenntnissen kommt sie aber nicht weiter, als in der Nähe ihres Heimatortes an der Küste wochenlang die Flut ausbleibt. Beide Filme verlassen radikal die Bahnen der konventionellen Erzähldramaturgie und geben dem Kino neue Impulse.
Tor zum Himmel
Junge oder Mädchen?
Aufmischung und Chaos offensichtlich auch bei den Geschlechtern: In einer der von Neco Celik in seinem zweiten Spielfilm
Urban Guerillos parallel erzählten drei Geschichten aus der Rapper- und Graffiti-Szene von Berlin freunden sich zwei Graffiti-Künstler an und arbeiten gemeinsam an einem Projekt, bis der eine merkt, dass sein Partner eigentlich eine Frau ist. Ein in seiner Sprache authentisch wirkender und stilistisch verfremdeter Film über eine Welt, die normalerweise im Kino nur als pittoresker Hintergrund auftaucht. – Der schweizerische Film
Des Epaules Solides von Ursula Meier erzählt die bisher im Kino ebenfalls kaum erzählte Geschichte einer ehrgeizigen jungen Läuferin, die zwischen ihrer aufblühenden Weiblichkeit und den körperlichen Anforderungen einer Spitzenathletin hin- und hergerissen ist, sich schließlich die männlichen Sportler im Wettkampf zu Vorbildern aussucht und zur Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit ihre Gefühle, ihren Körper und sogar ihre Freunde verleugnet. –
Osama von Siddiq Barmak ist der erste Spielfilm, der nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan gedreht wurde, und liefert in parabelhafter Form einen Zustandsbericht über die Lage der Frauen unter der Herrschaft der Taliban. Weil es den Frauen verboten war, ohne männliche Begleitung das Haus zu verlassen, verkleidet eine allein stehende Mutter ihre 12-jährige Tochter in einen Jungen, damit diese als Osama bei dem Freund des verstorbenen Ehemannes arbeiten und Geld zum Überleben verdienen kann. Als ihre wahre Identität entdeckt wird, entkommt sie nur der Steinigung, weil ein alter Mullah sie zur Frau nimmt. Barmak, der vor und nach der Talibanherrschaft die staatliche afghanische Filmorganisation managte, hat einen emotional aufwühlenden Film gedreht, der volle Aufmerksamkeit verdient, auch wenn er in seiner dramaturgischen Gestaltung sehr auf ein westliches Publikum abzielt und ein fader Nachgeschmack bleibt. Denn auch er zeigt die Frauen als zimperliche, ängstliche und weinerliche Wesen, und die Charakterisierung der Taliban als das Böse schlechthin gerät zum Mittel der Propaganda lediglich mit umgekehrten Vorzeichen. Iranische Filmemacher haben dasselbe Thema jedenfalls schon wesentlich sensibler aufgegriffen.
Moderne Märchen
Austausch und Verständigung zwischen den Kulturen selbst über Klassenschranken hinweg war ebenfalls ein wiederkehrendes Thema in Hof und begegnete oft in märchenhafter Form. In
Vier Könige, drei Regeln von Georg Faber und Jonas Knudsen haben sich vier Freunde, deren Eltern einst aus Syrien, Ghana oder Italien kamen oder wirklich aus Berlin stammen und die gemeinsam in einem Berliner Plattenbau aufgewachsen sind, ewige Freundschaft geschworen, die sich den Belastungen des Alltags jedoch nicht gewachsen zeigt. Sie zerbricht endgültig, als einer von ihnen seiner "Traumfrau" begegnet. Den beiden Filmemachern, die nie eine Filmhochschule besucht haben, ist eine authentische Milieustudie mit märchenhaften Zügen gelungen, die noch an Kraft gewonnen hätte, wenn handwerkliche Schwächen den Gesamteindruck nicht etwas trüben würden. – Veit Helmer erzählt in
Tor zum Himmel die Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen vor dem Hintergrund des Frankfurter Flughafens. Der ist Arbeitsplatz zahlreicher Ausländer, Zwischenunterkunft für illegale Einwanderer, denen die Abschiebung bevorsteht, aber auch ein Symbol für grenzenlose Freiheit. Ihren Traum vom Fliegen teilen sich ein "illegaler" Russe, der Pilot werden möchte, und eine junge Putzfrau aus Indien, die Stewardess werden und ihren kleinen Sohn nach Deutschland holen möchte. Inszeniert hat Helmer diesen Traum vom Glück als ein eigenwilliges Stück Bollywood inmitten von Frankfurt. Es gibt Einblick in die Unterwelt kilometerlanger Förderbänder wie in die menschlichen Schicksale, die sich hinter deutscher Abschiebepraxis auftun und die wohl nur im Märchen ein glückliches Ende finden können. Bleibt nur zu hoffen, dass die sicherheitstechnischen Lücken in dieser folkloristisch aufgepeppten Traumwelt des Flughafens auch nur ein Märchen sind.
Kleine Entdeckungen
Wie so häufig in den vergangenen Jahren gab es in Hof auch dieses Mal kleine Entdeckungen, Filme, die noch keinen Verleih in Deutschland haben, aber unbedingt eine Chance im Kino verdienen.
Little Girl Blue von Anna Luif gehört dazu, ein Jugendfilm aus der Schweiz, den der bekannte Filmemacher Samir mitproduziert hat. Die tragikomische Coming-of-Age-Geschichte ist zwar formal sehr geradlinig und einfach erzählt, überzeugt aber voll und ganz durch seine ungezwungene Authentizität und die natürlich vor der Kamera agierenden, jugendlichen Darsteller. Die neu zugezogene, schüchterne Sandra hat es nicht leicht, gegen die coole Clique der anderen Mädchen zu bestehen und obendrein gerät sie den erotischen Plänen der Anführerin Nadja in die Quere, als sie sich spontan in den noch unerfahrenen Mike verliebt. Was beide noch nicht wissen: Sandras Vater hatte vor vielen Jahren einmal eine Beziehung mit Mikes Mutter und als sich die beiden Elternteile durch Zufall erneut begegnen, lassen sie die alte Liebe wieder aufleben, sehr zum Leidwesen ihrer Kinder und der daran nicht beteiligten Elternhälften. – Die Berliner Göre
Kroko im gleichnamigen Film von Sylke Enders ist blondes Gift in Reinkultur, mit einem alles durchdringenden Blick. Eiskalt widersetzt sie sich ihren Widersachern und selbst die coolsten Sprüche weiß sie mühelos zu kontern, bis sie wegen einer Straftat zu 60 Stunden Sozialdienst in einer Behinderten-WG verdonnert wird. Was sie zunächst als reine Zumutung empfindet, verändert bald ihr Leben, als sie durch die Begegnung mit den spastisch Gelähmten ihre eigene Welt erstmals kritisch zu hinterfragen beginnt. In diesem Film stimmt alles: das Milieu der Straße, die unverbrauchten (Laien-)Darsteller, die sich selbst spielenden Behinderten, die niemals aufgesetzt wirkenden coolen Sprüche und Dialoge, die Form, der Inszenierungsstil und die Dramaturgie. Ein für das Fernsehen produzierter Film, der unbedingt und so schnell wie möglich ins Kino gehört!
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006