Wie geht das Leben? Wie fühlt sich Liebe an? Wann ist er da – der vollkommene Augenblick? Mit der ersten großen Liebe, wenn man meint, mit der Natur, dem Universum zu verschmelzen? Singuläre kostbare Momente sind das und: sie gehören der Jugend – heute wie 1927, als sich in Berlin ein Schülerdrama ereignete. Achim von Borries (
England!) hat das Ereignis zum Ausgangspunkt seines zweiten Spielfilms
Was nützt die Liebe in Gedanken genommen, ohne es in allen Details historisch exakt zu rekonstruieren.
Absolut und kompromisslos
Paul Krantz, ein Proletarierkind mit Schriftstellerambitionen, ist mit dem draufgängerischen Günther Scheller aus gutbürgerlichem Hause befreundet. Trotz aller Klassenunterschiede eint die Abiturienten ein rebellisches Lebensgefühl, das Absolutheit fordert und die Lust, jede Sekunde so zu leben, als sei sie ihre letzte. Um nicht wie die Erwachsenen Zeit mit Kompromissen zu füllen, gründen sie einen Selbstmörderclub, der den Freitod fordert, sobald einer von ihnen den höchsten Punkt im Leben erfährt. Nur eine pubertäre Schwärmerei? Paul und Günther gehen noch weiter: Sie schwören sich, dann aus dem Leben zu scheiden, wenn sie keine Liebe mehr empfinden und dabei all jene mit zu töten, die ihnen ihre Liebe raubten.
Ein Paradies auf Erden
Es ist Sommer, Günthers Eltern sind ins Ausland verreist, also plant er ein Fest in ihrem Sommerhaus am See in der Nähe von Berlin. Wie ein unberührtes Paradies wirkt dieser sonnendurchflutete Flecken, alles ist vorhanden: ein voller Weinkeller, eine gut bestückte Bibliothek, harmonisch eingerichtete Zimmer. Ein perfektes Erwachsenen-Ambiente, das nun eine Jugend ohne Scham in Besitz nimmt, bereit für Abenteuer und Exzesse.
Frivoles Spiel mit tödlichem Ernst
Paul hat sich in Günthers 16-jährige Schwester Hilde verliebt. Doch das lebenslustige Mädchen nimmt es mit ihren Amouren nicht so genau. Der introvertierte Schreiberling rangiert bei ihr bestenfalls an zweiter Stelle, denn sie liebt den Kochlehrling Hans, der sich mit der Praxis des Begehrens besser auskennt. Günther ist gegen diese Liaison seiner Schwester, denn auch er ist dem jungen Blonden verfallen. Hans wiederum liebt, wer ihm gerade über den Weg läuft, doch am meisten sich selbst. Mit von der Partie ist schließlich noch Hildes Freundin Elli, die schon länger in Paul verliebt ist, ohne dass dieser es merkt. Berauscht von Musik und Alkohol, geraten die Fünf in einen Liebestaumel, der rasch seine eigene Dynamik entwickelt. Jede/r wird seinen/ihren privaten Glücksmoment erleben, alle jedoch zu einer anderen Zeit. Doch nur einer ist konsequent genug, seinem Lebensideal zu folgen: Zurück in der Berliner Wohnung erschießt Günther nach einer durchzechten Nacht Hans, der sich im Nebenzimmer mit Hilde verlustierte, und dann sich selbst. Der dabei anwesende Paul wird des Mordes angeklagt und erst nach neunmonatiger Verhandlung unschuldig erachtet und freigesprochen.
Jugendliche Lebensgefühle damals und heute
Auf drei Tage hat Achim von Borries diese rekonstruierte Geschichte verdichtet und dabei eine Brücke vom Lebensgefühl der 1920er Jahre zur Gegenwart geschlagen. Dabei bleiben die historischen Bezüge zur Weimarer Republik weit gehend ausgeblendet und wird auf eine detailgetreue Requisitenschlacht verzichtet. Habitus und Wortwahl der Protagonisten/innen wirken so zeitlos wie ihre Schwierigkeiten mit dem Erwachsenwerden: Orientierungslosigkeit, überzogene Egozentrik, das Pingpong-Spiel der Gefühle.
Wider die Tabus
Elternfiguren spielen in
Was nützt die Liebe in Gedanken keine Rolle. Obwohl deren Reglement in Günthers und Hildes Fall nicht besonders strikt gewesen scheint, rebellieren die Geschwister dennoch gegen überkommene Werte: Hilde fordert für sich ein "ganzes Land voller Männer", charmant-naiv und dennoch wissend spielt die Kindfrau ihre Reize aus. Günther hingegen will nur Hans – und das Leben bis zum Limit ausschöpfen. Hildes lockere, sexuell freizügige Einstellung und Günthers selbstbewusster Umgang mit seiner Homosexualität passen zwar in das libertinäre Lebensgefühl der Bohemiens der 1920er Jahre, für den Rest der Gesellschaft war ihr Verhalten jedoch skandalös. Achim von Borries inszeniert Liebe und Sexualität weder voyeuristisch noch beschönigend, sondern zeigt ihre lustvollen und verwirrenden Facetten als Experimente und Probe aufs Exempel – passend zur heutigen Sicht.
Paraderollen für bekannte Jungstars
Musik und Drogen spielen auch bei der Jugend von 1920 eine Rolle. Hier verleiht unter anderem der Genuss von Absinth, ein heute wieder in Mode gekommenes alkoholisches Getränk, den Partygästen eine rebellische Note. Zum heutigen Zeitgeist passt auch, dass von Borries seine Protagonisten/innen mit bekannten Jungstars besetzt: Daniel Brühl (
Good Bye, Lenin!) als Paul und August Diehl (
23 – Nichts ist so wie es scheint,
Lichter) als Günther. Die Newcomerin Anna Maria Mühe (
Große Mädchen weinen nicht) gibt eine lebenslustige Hilde, der wenig anzumerken ist von jener Verruchtheit, die ihr die damalige Presse unterstellte. Jana Pallaske (
alaska.de,
Engel & Jo) mimt die bodenständigere Elli. Sie hat sich daran gewöhnt, vom Leben weniger zu verlangen als ihre Freundin, daher würde sie bestens zu Paul passen. Obwohl beide eine Nacht miteinander verbringen, bleiben Pauls Gefühle für Hilde ungeschmälert. Denn sie allein vermag Pauls Gedichte mit eigenen Versen zu parieren: "Was nützt die Liebe in Gedanken? Kommt die Gelegenheit, dann kannst du's nicht ...", schreibt sie neckend, aber treffend in sein Notizbuch.
Tragik und Poesie
Paul nähert sich dem Leben primär auf theoretisch-reflektierter Ebene und wird so für Hilde als Liebhaber uninteressant. Sein Umgang mit der Realität bewahrt ihn jedoch auch davor, Günther in den Freitod zu folgen. Mag er seinen Freund noch so sehr für seine Impulsivität und Exzentrik bewundern, überragt er ihn immerhin mit der Ausdrucksstärke und Intelligenz seiner Gedichte. Immer wieder färben sie den atmosphärisch dichten und schauspielerisch überzeugenden Film mit einer melancholischen Note und ergänzen die poetischen Bilder von unberührter Natur und von einer Jugend, die in den 1920er Jahren schneller und intensiver verstrich als heute.
Autor/in: Cristina Moles Kaupp, 01.02.2004