Kinofilmgeschichte
Kino-Film-Geschichte XXIII: Vaterbilder
Wir leben in Zeiten, in denen eine Frau ihre Eizellen mit eigenem Erbmaterial befruchten kann, wie der Film
Blueprint (2004) gezeigt hat. Lohnt es da überhaupt noch, über Väter nachzudenken – über Väter im Leben und in der Kinogeschichte? Natürlich, denn im Leben ist "Brutpflege" ohne beide Eltern nach wie vor ein Problem. Viele Kinder werden in dieser Situation an der Seele verletzt. Vielleicht gibt es eines Tages andere Modelle der "Aufzucht". Doch jetzt, da wir die Krise der Familie erleben, ist es aufschlussreich, mit Filmen zurückzuschauen auf mediale Vaterbilder. Das Kino erweist sich auch in diesem Fall als sozialer Seismograph. Die wichtigen Filmväter waren seit jeher Väter in der Krise.
The Kid
Paarbildung und Weltkriegsnot
In der Frühzeit des Films spielte die Familie keine auffällige Rolle. Sie war melodramatisch bedroht oder bereits fragmentiert wie in den Filmen von D. W. Griffith. In der Slapstickkomödie ging es höchstens um Paarbildung und nicht um ihre Folgen, etwa in Sieben Chancen von und mit Buster Keaton. In Deutschland bedeutete Kintop Spektakel im Spiel mit dem Irrationalen. Erst G. W. Pabst interessierte sich 1925 in Die freudlose Gasse für Auswirkungen der Lage nach dem Ersten Weltkrieg auf eine verarmte Familie, in der auch der Vater nur Opfer ist.
Der Tramp erzieht
Der erste wirklich anrührende Vatercharakter in einem Film hat nicht einmal eine Familie: Ihm, dem Tramp, fällt ein Kind als Waise zu. Aber dieses Kind, das er zunächst unbedingt loswerden möchte, liebt und erzieht er – allein – schließlich mit allem Pathos: Charlie Chaplin in The Kid von 1921. Wer Mythen und Tiefenpsychologie kennt, weiß allerdings, dass die Beziehung zwischen dem Vater und (vor allem) dem Sohn nicht liebevoll sein muss. Seit Ödipus und Agamemnon, aber auch seit dem Zwist zwischen Vatergott und Menschensohn Kain, gibt es die Urszene des Vatermords und des Sohnesmords. Der sowjetische Regisseur Sergej Eisenstein wollte diesen Urkonflikt 1935 in Die Beshin-Wiese in aller Archaik zeigen. Die stalinistische Zensur aber zerstörte das Werk; nur Fotofolgen deuten an, welche Gewalt es gehabt hätte.
Terminator II (1991)
Väter für das Volk
In den 1930er und 1940er Jahren verfiel Amerika in die wirtschaftliche Depression, und Europa fiel in die Hände autoritärer Diktatoren. Die Regisseure Stalins stilisierten den Herrscher zum Vater des Volkes. Im nationalsozialistischen Deutschland stellte Hitlerjunge Quex die Vätergeneration der Weimarer Republik in Frage, und zahlreiche andere Filme (Ohm Krüger, Der alte und der junge König, Carl Peters) lieferten übergroße Identifikationsfiguren für jene Kinder, die im Krieg Väter verloren oder wenigstens auf sie verzichten mussten. Hollywood etablierte in dieser Zeit einerseits den Gangster als Patriarchen über der Bande als Ersatzfamilie, andererseits Kinderstars wie Shirley Temple, die zwar ethisch vorbildlich handelten, doch die Väter objektiv zur Staffage herabsetzten.
Das Kino als Therapeut
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute bildet sich die eigentliche Rolle des Kinos als Ort der Familientherapie heraus: Es erzählt zwar immer wieder "heile" und heitere Familiengeschichten, um die Normalität der sozialen Institution in den Köpfen präsent zu halten. Tatsächlich aber stellt es für die Fantasie der "institutionell geschädigten" Zuschauer/innen Ersatz-Rollen zur Verfügung, um die notwendigen Elternfunktionen zum Schein – und selbstverständlich auf der kommerziellen Grundlage des Illusions-Kaufs – zu bedienen. Es liefert Vorbilder, Identifikationsmodelle, Aggressionspotenziale und die Liebesobjekte der Stars. Was sich normalerweise zwischen Eltern und Kindern abspielt, leistet das Kino als Instant-Format. Das hat sich bis in die Gegenwart nicht geändert, wird im Gegenteil umso dringlicher, je mehr sich der Familienzerfall beschleunigt. Gerade in populären Produktionen wie Terminator (James Cameron, 1984 und 1991) oder Matrix (Andy und Larry Wachowski, 1999 und 2003) geht es auch um verschobene Familienbilder, Väterprojektionen und die Ablösungs-Prozesse von Söhnen, die Verantwortung übernehmen müssen.
Not und Lebenslügen
Dazwischen liefert das Kino immer wieder Bestandsaufnahmen der realen Stellung von Vätern. Vittorio de Sicas
Fahrraddiebe aus dem Jahr 1948 ist ein Muster für solch analytisches Kino. Der Film behandelt die Krise zwischen Vater und Sohn in wirtschaftlicher Notlage. Er stellt die Frage, wie Väter noch Vorbilder sein können, wenn es die Verhältnisse nicht zulassen. Wenn ein Vater aus dem Krieg zurückkommt, haben sich die Verhältnisse oft verändert. Er soll Kinder erziehen, die ihm fremd sind. Viele Filme erzählen davon, jüngst Sönke Wortmann in
Das Wunder von Bern (2003). Andere Filme erzählen von den Lebenslügen, die Väter errichten, um ihr Autoritätsbild nicht zu trüben. Wenn die Söhne sie entdecken wie in
Jenseits von Eden (Elia Kazan, 1955),
Tod eines Handlungsreisenden (Volker Schlöndorff, 1985) oder Nico Hofmanns
Land der Väter, Land der Söhne (1988), hat das meist tragische Folgen.
American Beauty
Scheidung wird zum Thema
Manchmal haben die Väter des Kinos nur Scheinprobleme und sind nach Turbulenzen in ihrer Rolle wieder glücklich wie Spencer Tracy oder Steve Martin in den beiden Fassungen von Vater der Braut aus den Jahren 1950 und 1991. Doch sehr oft sind ihre Familien kaputt. Sie können Witwer sein wie Cary Grant mit seiner Großfamilie in Hausboot (Melville Shavelson, 1958). Dann lässt sich die Zerstörung durch die Form der Komödie wieder heilen. Dem realen Auseinanderleben von Partnern aber kann die Komödie längst nicht mehr beikommen. Das musste sogar Hollywood 1979 einsehen. Erstmals wurden dort zwei Filme über sehr lebensnahe Scheidungssituationen gedreht: Robert Bentons Kramer gegen Kramer und Robert Redfords Eine ganz normale Familie.
Ist die Familie noch zu retten?
Hollywood muss darüber ziemlich erschrocken sein. Während in Europa zerbrochene Familien, seelisch verletzte Kinder und abwesende oder ratlose Väter seit François Truffauts Sie küssten und sie schlugen ihn (1959) zur Normalität des Kinos gehören, machten sich die US-Studios vor allem in den 1990er Jahren die Errettung der Familie geradezu zur Aufgabe – wahrscheinlich weil die Scheidungsquoten weiter stiegen. Niedlichkeiten wie Kuck mal, wer da spricht (Amy Heckerling, 1989 und 1990) sollten Lust auf Brutpflege machen. Die Saurier-Herden in Jurassic Park (Steven Spielberg, 1993) trieben einem Wissenschaftler die Kinderfeindlichkeit aus. Schließlich mussten sogar die Extraterrestrier in Independence Day (Roland Emmerich, 1996) und die Tornados in Twister (Jan de Bont, 1996) dazu herhalten, um Paare, die in Trennung oder ohne Trauschein lebten, in die Ehe zu treiben. Auf Vaterbilder kam es dabei nicht mehr an. Nur die Bereitschaft zur Familiengründung oder -bewahrung zählte. Doch mit American Beauty (1999) revidierte Sam Mendes zur Jahrtausendwende den Trend. Die Vaterfigur kommt in der Wirklichkeit an. Sie ist selbstbezogen und unfähig, ihre biologische Funktion auf das Soziale auszuweiten. Konsequent endet sie mit dem Tod – keine guten Aussichten.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006