Cannes 2004
Fahrenheit 911
2004 sollte alles besser und freundlicher werden, versprach Festival-Chef Thierry Frémaux, der im vierten Amtsjahr aus dem Schatten seines Vorgängers und "Übervaters" Gilles Jacob heraustrat und etwas mehr Offenheit bewies. Nicht nur die bewährten Cannes-Getreuen Wong Kar-Wai oder Emir Kusturica, Abbas Kiarostami, Benoît Jacquot oder Youssef Chahine erhielten eine Chance, sondern auch junge und frische Talente durften in der offiziellen Sektion (Wettbewerb und "Un Certain Regard") zeigen, was sie konnten. Insgesamt ergänzte sich die Auswahl zu einem ausgewogenen Programm mit Rückkehr zum Genrekino. Durch die Sektionen zog sich wie ein roter Faden die Suche nach einem Platz in der Welt – "das große Kinothema nach der Liebe", so Frémaux.
The Motorcycle Diaries
Preisgekrönte Bush-Polemik
Wie ein Triumphator musste sich Michael Moore vorkommen, als er die "Goldene Palme" für seinen Dokumentarfilm
Fahrenheit 9/11 in Empfang nahm. Durch den Hype um den Dokumentarfilm, mit dem Moore die Wiederwahl von George Bush verhindern will, schnellte das öffentliche Interesse schon im Vorfeld nach oben und die Festivalleitung drehte kräftig an der Schraube mit. Das Resultat auf der Leinwand brachte – jedenfalls für das Publikum aus Old Europe – wenig Neues. Moore hat seinen Film "den Kindern Amerikas und des Iraks und all jenen in der Welt" gewidmet, die "unter der Bush-Politik leiden". Mit seiner üblichen Melange aus Polemik und Politik untersucht er die Vorgeschichte des Irakkrieges und die seltsamen Wege des Mr. Bush ins Weiße Haus bis zu dessen Geschäftsverbindungen zur Bin-Laden-Familie. Doch neben den bekannten Fernsehbildern überraschten nur die Passagierlisten von Saudis, die mit Segnung der Regierung wenige Tage nach der Terror-Attacke vom 11. September 2001 ausgeflogen wurden – über das "Warum" mag man spekulieren.
Old Boy
Verdrängungs-Wettbewerb
Schade, dass durch die politische Jury-Entscheidung die weniger lauten, dafür nicht minder interessanten und politischen Wettbewerbsfilme in den Hintergrund gerieten: beispielsweise
The Motorcycle Diaries von Walter Salles, ein im Jahr 1952 angesiedeltes Road-Movie über den Jungmediziner Ernesto "Che" Guevara und seine Entwicklung zum Revolutionär – einer der großen Favoriten. Ähnlich erging es auch Wong Kar-Wais
2046 , eine magisch inszenierte Liebes- und Erinnerungsodyssee, die zwar etwas konfus die 1960er-Jahre mit dem Futurismus des Jahres 2046 verbindet, aber dennoch zu den visuellen Höhepunkten gehörte. Ins Gedächtnis brannte sich auch
Nobody Knows des Japaners Kore-Eda Hirokazu, eine berührende Geschichte über den Überlebenskampf von vier Kindern in Tokio, die von ihrer Mutter verlassen wurden. Die austarierte Mischung zwischen Melancholie und Hoffnung ist gleichzeitig Kritik an der Großstadt-Anonymität. Allerdings ist die Auszeichnung für den 13-jährigen Laiendarsteller Yuuya Yagira kaum nachvollziehbar, gab es doch schauspielerische Schwergewichte wie Gael García Bernal als grandioser "Che" und in Pedro Almodóvars Eröffnungsfilm
La Mala Educación oder Geoffrey Rush in der Titelrolle des Biopics
The Life and Death of Peter Sellers .
Comme une image
Weitere Preisträgerfilme
Die Jury unter ihrem Präsidenten Quentin Tarantino vergab den Regiepreis unverständlicherweise an einen der schwächsten Wettbewerbsbeiträge. Tony Gatlif ließ in
Exils zwei mit der Mimik auf Kriegsfuß stehende Schauspieler als algerischstämmige Franzosen von Paris aus durch Europa bis ins Heimatland Algerien ziehen und vergaß dabei jegliche Regeln einer Regie. Vorhersehbar dagegen war der "Große Preis der Jury" an Park Chan-Wook für
Old Boy . Der Rachefeldzug eines Mannes, der 15 Jahre ohne jegliche Erklärung in einem Zimmer gefangen gehalten wird und nach der Freilassung voller Hass den Schuldigen ausfindig macht, ist nichts für zarte Nerven. Die freie Adaption eines japanischen Mangas bildet nach
Sympathy for Mr. Vengeance den zweiten Teil von Parks Trilogie über Vergeltung und Sühne. Herausgerissene Zähne, eine abgeschnittene Zunge, der Verzehr eines zappelnden Tintenfisches schockieren, die Gewalt steht aber für den Regisseur im gesellschaftlichen Kontext.
Die fetten Jahre sind vorbei
Ein übersehenes Kinojuwel
Der rundum gelungenste Film kam aus Frankreich. Fünf Jahre nach ihrem fulminanten Regiedebüt Le gout des autres bezaubert Agnès Jaoui mit einer spitzzüngigen und dennoch warmherzigen Komödie. Wie Woody Allen in seinen besten Zeiten mokiert sie sich in Comme une image mit leisem Lächeln über die "sophisticated Spleens" der Metropolen-Neurotiker. Für die delikat gesponnene Betrachtung eines molligen Mädchens auf der Suche nach Identität erhielt sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Jean-Pierre Bacri die "Goldene Palme" für das Beste Drehbuch – verdient hätte dieses Kinoglanzstück weitaus mehr. Jaoui lässt bei der im bürgerlichen Pariser Milieu angesiedelten brillanten Charakterstudie keine Gelegenheit aus, sich über Egozentrik und Selbstbeweihräucherung der französischen Kulturelite zu mokieren, deckt mal mit milder, mal scharfer Ironie die Schwächen und Stärken ihrer Protagonisten/innen auf und gibt deren Sehnsüchten Raum. Alle Figuren wissen genau, was sie an der Stelle der anderen tun würden, nur bei ihrer Selbsteinschätzung hapert es gewaltig.
Marseille
Der deutsche Wettbewerbsbeitrag
Nach elf mageren Jahren gab es wieder einen deutschen Film im Wettbewerb. Das weckte Erwartungen, die auch nicht enttäuscht wurden: Das Publikum an der Croisette feierte Hans Weingartners
Die fetten Jahre sind vorbei mit zehn Minuten Standing Ovations. Der in Berlin lebende Österreicher erzählt in seinem zweiten Spielfilm nach
Das weiße Rauschen vom Traum, die Welt zu verändern, und setzt dabei auf intelligenten Witz, interessante Figuren und unterhaltende Dialoge. Jan, Peter und Jule sind Außenseiter/innen, sie kaufen keine Labels, sondern prangern die Sucht nach Labels an. Ihre honorigen Aktionen, die Kunden zu verschrecken, wirken erst einmal wie eine Erinnerung an die 1970er-Jahre, doch die Jungen von heute sticheln gegen die Alt-68er und ihre theoretischen Diskussionen. Ihren Zorn auf soziale Ungerechtigkeit lassen sie raus, wenn sie nachts in die Villen der Reichen einbrechen und sie in Unordnung bringen, Mobiliar verrücken, freche Sprüche hinterlassen, die Stereo-Anlage ins Eisfach und auch schon mal ein Kunstobjekt ins Klo stecken. Lustvoll jagen sie als "Erziehungsberechtigte" den Wohlhabenden Angst ein, bis das irgendwann mal schief geht. Mit Chuzpe und über ein kompliziertes Dreiecksverhältnis inszeniert Weingartner den Zusammenprall von alter und neuer Ideologie, vor allem aber zeigt er die Schwierigkeit, revolutionäres Gedankengut trotz Älterwerdens zu bewahren. Die Kinder von McDonald's und Popcorn haben die Kinder von Marx und Coca Cola abgelöst und proben den Aufstand ganz unverkrampft und unbeschwert.
Somersault
Die Nebensektionen
Auch der Blick in die Nebenreihen lohnte sich, vor allem in den "Certain Regard" mit 21 Filmen von fünf Kontinenten, darunter neun Erstlingswerken. Zwei deutschsprachige Filme hatten dort Weltpremiere, in beiden versuchen zwei junge Frauen sich selbst zu finden. Zum zweiten Mal nach
Plätze in Städten dabei, treibt Angela Schanelec in
Marseille die Rätselhaftigkeit ihrer bisherigen Filme auf die Spitze. Sie verzichtet weit gehend auf Zwischenschnitte, die meisten Sequenzen sind in langen Einstellungen gedreht. Die lockere Verbindung assoziativer Bilder und Sätze sowie die fragmentarische Erzählstruktur machen es aber nicht gerade einfach, der filmischen Momentaufnahme zu folgen. – Ein
Hotel in den Alpen wird bei Jessica Hausner zum Schauplatz mysteriöser Ereignisse. Die Österreicherin kombiniert
Blair Witch mit einer Prise Polanski und Hitchcock, dazu germanische Mythen vom Zauberwald, in dem die dunkle Tragödie einer jungen Rezeptionistin ihren Lauf nimmt. Das ist mehr ein Stoff für einen Kurz- als für einen Langfilm. – Auch die 16-jährige Heldin in
Somersault pocht mit aller Macht auf Anerkennung. Sensibel nähert sich die Australierin Cate Shortland in ihrem Regiedebüt den Problemen des Erwachsenwerdens und der aufkeimenden Sexualität, beschreibt im Wechsel von heiter und ernst das Durcheinander der Gefühle. – Von beklemmender Düsternis ist der Psychothriller
Crónicas von Sebastián Cordero, der in seiner Wucht an den inzwischen arrivierten Mexikaner Alejandro González Inarritú erinnert. In einem verzwickten Netz aus Lügen, Berechnung und Vermutungen stellt Cordero die Integrität der Presse infrage, wenn ein Star-Reporter aus Miami seinen Berufsethos ad acta legt und für die Karriere einem mutmaßlichen Kinderschänder und -mörder zur Freiheit verhilft. Am Ende stellt sich die diffizile Frage, wer das wirkliche Monster ist: der Kriminelle, die Medien oder eine repressive Gesellschaft? – In seelische Abgründe führte auch der Amerikaner Niels Mueller.
The Assassination of Richard Nixon schildert die Tragik eines ganz gewöhnlichen Mannes, der aus beruflicher und emotionaler Frustration zur Gewalt greift. Basierend auf einer "true story" zeichnet der Erstlingsregisseur die Wandlung vom glücklosen Möbelverkäufer zum verzweifelt um sich schießenden Flugzeugentführer, der es 1974 Richard Nixon und dem Washington-Establishment zeigen will. Wie der Traum vom American Dream und die Persönlichkeit sukzessive zerfallen, vermittelt Sean Penn mit brutaler Intensität.
Fotos: Festival de Cannes
Autor/in: Margret Köhler, 21.09.2006