Hintergrund
Liebe - Freundschaft - Sexualität
Liebesspiele unter Jugendlichen – modern: Petting – sind seit der Antike nachgewiesen, schreibt Louise J. Kaplan in ihrem Buch "Abschied von der Kindheit". Selbst in der spießigen angloamerikanischen Gesellschaft des späten 19. und 20. Jahrhunderts seien sexuelle Spiele praktiziert worden. Die "sexuelle Revolution" in den 1960er Jahren hat lediglich den Zeitpunkt der ersten Erfahrungen vorverlagert. Ende der 60er Jahre, so der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, verhielten sich die 16-Jährigen so wie die 19- bis 20-Jährigen zehn Jahre zuvor. Heute hat sich daran wenig geändert. Drei Fünftel der Jugendlichen haben mit 16 oder 17 schon einmal Petting bis an die Grenze zum Geschlechtsverkehr erlebt. Zwei Fünftel sind schon darüber hinausgegangen und haben miteinander geschlafen. Und homosexuelle Kontakte – so schätzt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – habe bis zum Alter von 15 Jahren jeder dritte Jugendliche erlebt. Später sinke die Zahl auf 17 Prozent, die sich gelegentlich, und drei Prozent, die sich ausschließlich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlen.
Was dürfen Jungen, was Mädchen?
Dabei scheinen Mädchen es leichter zu haben, Neigungen zum eigenen Geschlecht auszuleben. Wer denkt sich schon etwas bei zwei Girlies, die zusammen in die Badewanne steigen oder sich gegenseitig den Rücken eincremen? Auch wenn die Schwulenbewegung heute in der Mehrheitsgesellschaft angekommen ist – Jungen haben es schwerer. Gerade weil man zu wissen glaubt, wie sich Homosexuelle verhalten, haben sie Angst, in ihrer Clique aufzufallen. Volkmar Sigusch: "Seitdem die Homosexualität als eine eigene Sexualform öffentlich verhandelt wird, kommt die Befürchtung der Jungen hinzu, womöglich als 'Schwuler' angesehen zu werden." Hat die sexuelle Revolution also nichts geändert? Sexualwissenschaftler Sigusch hat beobachtet, dass die "symbolische Bedeutung" der Sexualität abgenommen hat, sie werde nicht mehr so "stark mythisch überhöht" wie bei der 1968er Generation, als Sexualität auch als Mittel zur Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen verstanden wurde. Keine Statistik deutet darauf hin, dass die Zahl der Schwulen und Lesben signifikant zugenommen habe, sie sind lediglich stärker in der Öffentlichkeit präsent.
Ist "cool sein” out?
Dagegen haben sich Wertvorstellungen über Liebe und Partnerschaft nicht nur in den heterosexuellen Paarbeziehungen, sondern auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren verfestigt. Junge Männer knüpfen heute viel stärker als noch vor 20 oder 30 Jahren den Geschlechtsverkehr an eine feste Liebesbeziehung. Jugendliche heute legen großen Wert auf gegenseitiges Verstehen und Vertrauen. Und junge Frauen sind selbstbewusster geworden: Sehr viel öfter, so Sigusch, bestimmen sie heute in einer heterosexuellen Beziehung, was geschieht und wie weit sexuell gegangen wird. Auch wenn es vielerorts immer noch die "coolen" Jungen sind, die in einer Clique den Ton angeben, die nichts an sich rankommen lassen und mit ihrem Macho-Gehabe jedes Abweichen vom Rollenklischee als "schwul" brandmarken – ganz allmählich scheinen sich auch die starken Jungen mit ihren Problemen beschäftigen zu müssen. Beim PISA-Test hat sich herausgestellt, dass die Schulleistungen von Jungen deutlich hinter denen der Mädchen zurückfallen. Jugendgewalt ist in erster Linie ein Jungen-Problem, sowohl die Schläger als auch die Opfer sind fast ausschließlich männlich. Jungen haben weitaus mehr psychische und physische Probleme als Mädchen, sagen die Kinderärzte. Sozialpädagogen/innen rufen nach Konzepten für eine "Jungenarbeit", die Konzentration auf die angeblich benachteiligten Mädchen sei überholt.
Erwachsen werden
Auch homosexuelle Jugendliche sind vor allem erst einmal Jugendliche, und die meisten, die sich für gleichgeschlechtliche Beziehungen entscheiden, erleben ihr Coming-out vor dem 18. Geburtstag. Mit wem können sie darüber reden? Wo hört Zärtlichkeit auf, wo fängt Sexualität an? Wo ist die Grenze? Woran merkt man, dass man schwul oder lesbisch ist? Die Eltern kommen nicht in Frage – sie fallen nach wie vor aus allen Wolken, wenn sie das Coming-out ihrer Kinder erleben. In der Schule werden solche Themen bis auf Ausnahmen ausgespart. Bleibt die Clique – und da hängt es sehr davon ab, ob schwule Themen sofort ausgegrenzt werden oder ein gewisses Maß an Toleranz vorhanden ist. Jugendliche können grausam zueinander sein, gerade wenn sie sich ihrer eigenen Identität noch nicht sicher sind. Beratungseinrichtungen wie Pro Familia oder das Jugendnetzwerk Lambda, der schwul-lesbische Jugendverband in Deutschland, bieten ihre Hilfe an. Lambda ist heute bis in Mittelstädte wie Aachen oder Landshut verbreitet, wo der Beratungsbedarf wahrscheinlich größer ist als in Berlin oder Hamburg. Doch ohne den persönlichen Mut des Einzelnen geht es nicht: Als Tobi mit Leo (von den "Queerschlägern") in Marco Kreuzpaintners Film
Sommersturm sein Coming-out erlebt hat, fragt er ihn, ob es später leichter wird. "Leicht war es nie", antwortet Leo. "Und am schwersten ist der Anfang."
www.profamilia.de/article/show/693.html www.lambda-online.de www.bzga.de
Autor/in: Volker Thomas, 21.09.2006