Das Interview führte Margret Köhler.
Volker Schlöndorff (Mitte) mit Bibiana Beglau bei den Dreharbeiten
Sie erhielten während des Filmfests München 2004 den "Bernhard-Wicki-Friedenspreis des Deutschen Films". Bei der Verleihung wurde viel von Zivilcourage, Anstand und Glaube, Freiheit, Gerechtigkeit und Ehre geredet. Entspricht dies noch dem heutigen Wertekanon?
Ich habe Bernhard Wicki gut gekannt, sein Film
Die Brücke inspirierte mich zu dem Wagnis, deutscher Filmregisseur zu werden. Als ich 1965 anfing, war er eines der wenigen Werke, die als Vorbild standen. Der Preis ehrt künstlerisches Arbeiten, das Brücken schlagen will, wo andere Gräben aufreißen, da fühle ich mich natürlich geehrt, gerade wenn die Auszeichnung einem Film wie
Der neunte Tag gilt. Zu den Werten: Ich glaube, wir brauchen eine aufrechte Haltung. Das Materielle kann und darf nicht alles sein. Natürlich ist es leichter, in der Kunst Zivilcourage zu beweisen, und ich bewundere die wenigen Leute in der Politik, die noch Rückgrat haben. Werte gehören zum Menschsein.
Das Projekt war schon länger im Gespräch. Wie sind Sie dazu gestoßen?
Produzent Jürgen Haase bot mir das Projekt an, als der Drehbeginn schon feststand und der vorgesehene polnische Regisseur sich im letzten Moment mit der Produktion überworfen hatte. Nach der Lektüre des Buches habe ich, ohne nachzudenken, sofort unter der Bedingung zugesagt, dass ich das Drehbuch noch einmal bearbeiten kann; acht Wochen später waren wir am Drehen. Meine Idealbesetzung mit August Diehl und Bibiana Beglau klappte, Ulrich Matthes als Priester Henri Kremer stand schon fest. Es lief dann alles glatt und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, wir mussten auf kein Gremium mehr warten, sondern konnten gleich anfangen.
Wo sehen Sie den Bezug zur heutigen Zeit?
Als ich den autobiografischen Bericht "Pfarrerblock 25487" von Jean Bernard las, seine tagebuchartigen Aufzeichnungen, war ich gepackt. Es geht um Schuld, Eigenverantwortung und Entscheidung, Themen, mit denen jeder Mensch konfrontiert ist – damals wie heute. Zivilcourage beweist sich täglich in kleinen Dingen, es muss nicht immer gleich um Leben oder Tod gehen wie bei Pfarrer Kremer: Das Leben seiner Familie und der Priester im Lager hängt von ihm ab und er ist ganz allein auf sich zurückgeworfen, niemand kann ihm helfen, weder seine Schwester noch der Bischof oder der liebe Gott. Aber es ist menschlich, immer nach Antworten zu suchen, die uns niemand geben kann. Der Protagonist weiß nicht, ob er die Kraft hat, das Richtige zu tun, obgleich ich glaube, dass es ihm von Anfang an klar ist, nicht mit den Nazis zusammenzuarbeiten.
Im Verhältnis von Pfarrer Kremer zu Gestapo-Chef Gebhardt geht es auch um die Judas-Problematik.
Jedenfalls sagt Gebhardt in einer Szene zu Kremer: Wir ergänzen uns so wie Judas und Jesus – ein sehr perverses Argument. Zwar gibt es philosophisch gesehen kein Gutes ohne das Böse, aber dieser Mann geht einen Schritt weiter und behauptet, wenn Judas Christus nicht verraten hätte, wäre dieser nicht am Kreuz geendet und auch nicht zum Erlöser geworden, ergo gäbe es dann keine Kirchen. Das ist ein falsches Argument, das hier aber seinen Zweck erfüllt. Dieser elegante Mephisto, der sich kultiviert gibt, ist schon ein gewiefter Verführer.
Der aber auch seine Maske fallen lässt ...
Sie meinen die Situation, in der er Kremers Schwester gegenüber gewalttätig wird? Diese Szene stand nicht im Drehbuch. Ich bin durch den argentinischen Film
Die offizielle Geschichte darauf gestoßen. Da arbeitet ein Mann beim Geheimdienst, was niemand weiß, und bricht einmal die Finger seiner eigenen Frau im Türrahmen. Durch diese Geste versteht man die argentinische Militärdiktatur als Ganzes. Mir lag es daran, diese Diskrepanz zwischen Kultiviertheit und Skrupellosigkeit zu zeigen. Gebhardt hat sich die Aufgabe selbst gesetzt, aus Sendungsbewusstsein und Machtwillen. Der Kampf zwischen Macht und Moral, Gebhardt auf der einen und Kremer auf der anderen Seite, hat etwas Faszinierendes.
Sie konzentrieren sich auf diese zwei Personen, verzichten auf Massenszenen wie in anderen Filmen über die NS-Vergangenheit.
Einen Film, der im KZ Dachau spielt, kann man gar nicht "arm" genug machen. Ich wollte keinen epischen Film, sondern die Geschichte auf das Wesentliche reduzieren. Da brauche ich keine großen Appellplatz-Orgien, sondern da geht es um Kleinigkeiten, die den KZ-Alltag bestimmten. Erstmals konnte ich mir vorstellen, wie grauenvoll das für einen Menschen gewesen sein muss. Ich habe einfach die Chance gesehen, hier eine Radikalästhetik hineinzubringen.
Können Sie diesen ganz speziellen Farb-Look erläutern?
Wir dachten sogar einmal daran, den Film in Schwarzweiß zu drehen, damit er wirklichkeitsnäher aussähe. Aber der Zuschauer hätte fatalerweise auch denken können, wir hätten ein altes Werk aus den 1950er Jahren ausgegraben. Daraufhin haben wir uns entschlossen, eine Korrektur an der Farbästhetik anzubringen. Wir haben auf 35mm-Film gedreht und das Material von der Farbe her nicht digital bearbeitet, sondern mit traditionellen Mitteln: durch das Übereinanderkopieren von dem schwarzweißen und farbigen Negativ, eine sehr teure und aufwändige Angelegenheit.
Hoffen Sie auf ein junges Publikum?
Eine ganze Generation von Schülern ist bei uns so gnadenlos mit der Vergangenheitsbewältigung traktiert worden, dass sie sich schuldig fühlen muss für etwas, was biologisch vor ihrer Existenz geschehen ist. Sie wollen tatsächlich – wie Martin Walser anmerkt – davon nichts mehr hören. Dies ist ein spezielles Handicap. Auf der anderen Seite glaube ich, dass die jungen Leute trotz aller Verblödung durch das Fernsehen eine Sensibilität für Qualität entwickeln. Ich halte sie nicht für oberflächlicher als die Älteren, oft sogar für ernsthafter.
Der neunte Tag ist ein Film, den das Publikum entdecken muss, und ich habe großes Vertrauen, dass es ihn annimmt, wenn man ihm die Möglichkeit dazu gibt.