Hintergrund
Auf gepackten Koffern
Flüchtlingskinder in Deutschland
Etwa 220.000 Flüchtlingskinder leben heute in Deutschland. Die meisten stammen aus dem Irak, Afghanistan, Vietnam und aus aktuellen oder ehemaligen afrikanischen Krisenregionen wie Angola und Sierra Leone. Ihre Familien flohen, weil sie wegen ihrer Religion oder ihrer politischen Ansichten verfolgt wurden oder Krieg und Gewalt entkommen wollten. Andere entschlossen sich zur Flucht, weil die Eltern in der menschenunwürdigen Armut des Heimatlandes sich und ihre Kinder nicht mehr ernähren konnten. In Deutschland angekommen, müssen sie einen Asylantrag stellen. Als Asylbewerber/innen werden sie in Sammelunterkünften untergebracht, ihre Freizügigkeit ist eingeschränkt und sie müssen mit dem auskommen, was ihnen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zusteht. Dessen Satz ist geringer als der des Arbeitslosengeldes II und wird oftmals als Sachleistung, beispielsweise in Form von Essensgutscheinen, geleistet.
Drohende Abschiebung
Lediglich 6,3 Prozent der im Jahr 2006 hierzulande gestellten Asylanträge waren erfolgreich. Die Mehrheit der Betroffenen musste eine Ablehnung des Asylantrags hinnehmen. Diese Menschen sind ausreisepflichtig und werden in der Regel abgeschoben, wenn sie das Land nicht wie aufgefordert verlassen. Die Abschiebung kann nur dann ausgesetzt werden, wenn die Ausreise aus medizinischen Gründen nicht durchführbar ist, der Pass für die Rückreise fehlt oder es die politische Situation im Herkunftsland nicht erlaubt. In solchen Fällen wird in der Regel eine Duldung erteilt, diese ist jedoch nur auf kurze Zeit befristet. Verlängerungen sind möglich, oft sogar über viele Jahre. Aber: Der Abschiebebescheid für ganze Familien kann immer kurzfristig im Briefkasten landen. Besteht der Verdacht, dass die Familie nicht freiwillig ausreisen wird, droht die Abschiebehaft. So kommt es immer wieder vor, dass auch Minderjährige in einer Gefängniszelle landen.
Auf gepackten Koffern
Im Vergleich zu ihren Altersgenossen mit deutschem Pass oder gesichertem Aufenthaltsstatus sind Flüchtlingskinder stark benachteiligt. Sie werden nicht geimpft, weil niemand die Kosten für die präventive medizinische Behandlung übernimmt. Wenn sie nicht zur Schule gehen, hat dies in einigen Bundesländern keine Konsequenzen – dort gibt es für Flüchtlingskinder nur ein Schulrecht, keine Schulpflicht. Viele landen in Sonderschulen für Lernbehinderte, obwohl sie keinesfalls lernbehindert sind, sondern lediglich die Sprache schlecht beherrschen. Häufig wird jungen Flüchtlingen von den zuständigen Landesbehörden sogar davon abgeraten, die Schule zu besuchen, da sie ja eh "auf gepackten Koffern" säßen.
Gesetze und Verordnungen
Die problematische Situation der Flüchtlingskinder in Deutschland ist rechtlich manifestiert. Zwar ratifizierte die Bundesrepublik im Jahr 1992 die UN-Kinderrechtskonvention, in der klare Schutz- und Versorgungsbestimmungen für Kinder formuliert werden, gab jedoch gleichzeitig eine Vorbehaltserklärung ab. Darin wird festgestellt, dass keine Bestimmung der Konvention das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränke, "... Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und die Bedingungen ihres Aufenthaltes zu erlassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen". Dies steht konträr zu Artikel 2 (1) der Kinderrechtskonvention, der besagt: "Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung unabhängig von der ... nationalen Herkunft ... oder des sonstigen Status des Kindes ..." Dieser Vorbehalt ist bis heute gültig, ungeachtet einiger Anläufe auf politischer Ebene und trotz des Engagements zahlreicher Menschenrechtsorganisationen, die diesen Missstand seit langem anprangern. Die Skepsis gegenüber den Flüchtlingen schlägt sich in einer Vielzahl neuer Gesetze und Verordnungen nieder, die den Weg zur Aufenthaltserlaubnis immer schwieriger gestalten – eine Tendenz, die sich in den meisten europäischen Ländern abzeichnet.
Minderjährig und alleine
Eine besondere Gruppe unter den Flüchtlingskindern sind die unbegleiteten Minderjährigen. In Deutschland leben zwischen 5.000 und 10.000 Flüchtlingskinder, die ohne Eltern oder Familie nach Deutschland gekommen und auf sich allein gestellt sind. Manche haben ihre Angehörigen verloren, mussten sogar zusehen, wie ihre Familien ermordet wurden. Andere wurden von ihren Eltern, die sich im wohlhabenden Deutschland eine neue Existenz aufbauen wollen, losgeschickt, um die Ausreise der ganzen Familie vorzubereiten. Ob zu Fuß durch die Wüste oder auf morschen Booten über das Meer: Der Weg in die sicheren Länder des Nordens ist riskant, ja lebensgefährlich. Oft hatten die Kinder keine andere Wahl, als sich skrupellosen Schleuserbanden anzuvertrauen. Nicht selten wurden sie zu Opfern von Kinderhandel.
Kein dauerhafter Schutz
Die Gründe und die Fluchtwege unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge können sehr unterschiedlich sein, doch in Deutschland finden sie sich alle in einer ähnlichen Situation wieder. Sie genießen keinen angemessenen Schutz, wie ihn die UN-Kinderrechtskonvention für Flüchtlinge beispielsweise bei der Wahrnehmung ihrer Rechte vorsieht. Als Jugendliche haben sie Anspruch auf eine Vormundschaft, die das Jugendamt übernehmen müsste. Doch in der Praxis kümmern sich die Jugendämter nur wenig um junge Flüchtlinge, da das Gesetz sie bereits mit 16 Jahren für verfahrensfähig erklärt. So müssen sie ihre ausländerrechtlichen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen und durchlaufen dasselbe Verfahren wie Erwachsene, ohne das Recht auf juristischen Beistand. Den Anspruch, in einer gesonderten Unterbringung für Jugendliche Obdach zu finden, verlieren sie mit ihrem 16. Geburtstag. Sie werden gemeinsam mit Erwachsenen in Sammelunterkünften untergebracht, in denen die sozialen Spannungen oftmals sehr hoch sind, und in denen es nur ein Minimum an Privatsphäre gibt.
"Inaugscheinnahme"
Nicht alle Kinder und Jugendlichen, die nach Deutschland einreisen, verfügen über Dokumente, die ihr Alter bestätigen. Viele wissen selbst nicht einmal, wie alt sie sind. Daher gestaltet sich die Bestimmung des Alters manchmal schwierig. Häufig entscheiden Beamte der Ausländerbehörde durch "Inaugenscheinnahme" über das Alter des Flüchtlings. Eine wissenschaftlich nicht gesicherte Prozedur, an deren Ende oftmals das Urteil "im Zweifel gegen den Flüchtling" steht. Die Asylgesuche der unbegleiteten Flüchtlingskinder werden in den meisten Fällen abgelehnt, da sie im Sinn des deutschen Asylrechts nicht "politisch verfolgt" werden. Den Kindern, die trotz des abgelehnten Asylantrags weiter in Deutschland "geduldet" werden, wird von staatlicher Seite derzeit wenig geholfen. Eine psychosoziale Betreuung, um die Traumata der Vergangenheit zu bewältigen, wird von staatlicher Seite häufig nur in Extremfällen unterstützt. Statt der erhofften Zuflucht droht ihnen nun die Abschiebung in ihre Herkunftsländer. Auch wenn ihr Leben dort nach wie in Gefahr ist.
Literatur und Links
Angenendt, Steffen: Kinder auf der Flucht. Minderjährige Flüchtlinge in Deutschland, Opladen 2000
Ballusek, Hilde von (Hrsg.): Minderjährige Flüchtlinge. Sozialisationsbedingungen, Akkulturationsstrategien und Unterstützungssysteme, Opladen 2003
Deutsche Rotes Kreuz: Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus - Dokumentation einer Fachtagung, Berlin 2004
Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001
www.bpb.de
Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema
Migration
www.b-umf.de
Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V.
www.tdh.de
Die Menschenrechtsorganisation terre des hommes
Autor/in: Athanasios Melissis, Mitarbeiter von terre des hommes, 24.11.2007
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