Hintergrund
Figurenanalyse Wintertochter
Fünf Filmbiografien, die die deutsch-polnische Geschichte repräsentieren
Kattaka, ein Kind des 20. Jahrhunderts
Kattaka (eigentlich Katharina) lebt mit ihren Eltern in Berlin. Sie ist Mitte der 1990er-Jahre geboren und somit nach dem letzten großen Umbruch in der europäischen Geschichte. Allerdings stellt sich bald heraus, dass ihre Herkunft sehr wohl etwas mit den spezifischen Bedingungen des Kalten Krieges zu tun hat: Kattaka ist letztendlich auch noch ein Kind des 20. Jahrhunderts und seiner Verwerfungen. Ihr leiblicher Vater war als Mechaniker in einer sowjetischen Kaserne beschäftigt und somit ein Teil jener zeitweise über 500.000 Mann starken Heeresmacht, die ab Kriegsende bis 1994 in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR stationiert war und die Grenze zur westlichen Welt bewachte. Private Kontakte zu Angehörigen der Sowjetarmee waren in der DDR offiziell unerwünscht und mit dem Abzug der Truppen erschien es Kattakas Mutter Margarete vermutlich aussichtslos, den Kontakt zum Vater des Kindes wieder aufzunehmen. Er stammt aus Wladiwostok, einer am Pazifik gelegenen Stadt im südöstlichen Zipfel Russlands. Vielmehr empfand sie es als logisch und zweckmäßig, das Kind als die Tochter ihres neuen Freundes Daniel auszugeben. Der unvermittelte Anruf von Alexej bringt Daniel und Margarete in Verlegenheit. Sie stürzen ihre Tochter in eine Krise, als sie ihr eröffnen, dass Alexej ihr leiblicher Vater ist, der zugleich aber in unerreichbarer Ferne lebt. Mit ihrer trotzigen und unerbittlichen Haltung setzt Kattaka die Filmhandlung in Gang. Ihre Reise offenbart, auf wie vielfältige Weise Biografien in Deutschland und Polen durch die geschichtlichen Ereignisse geprägt, durcheinandergeworfen und zerstört wurden.
Lene – von Ostpreußen nach Berlin
Lene Graumann, eine geborene Siwy (polnisch für "grau"), ist die Nachbarin von Kattakas Familie und stammt aus der Gegend um Olsztyn (früher Allenstein), eine Großstadt, die im Nordosten Polens liegt. 1772 wurde die Stadt dem Königreich Preußen zugesprochen und gehörte dann bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Teil Ostpreußens zum Deutschen Reich. Im Winter 1944/45 fürchtete die deutsche Bevölkerung den bevorstehenden Einmarsch der Roten Armee. Da der Landweg nach Westen abgeschnitten war, flohen Tausende an die Ostsee, um mit einem Schiff nach Westen zu gelangen. Lene offenbart ihre Fluchtgeschichte im Laufe des Films. Der Vater wurde als Soldat getötet. Sie selbst war noch ein Kind und wollte mit ihrer Mutter Danzig erreichen. Bereits für Erwachsene war die Flucht zu Fuß ein furchtbares Erlebnis, für Kinder wurde es zu einer traumatischen Erfahrung. Von den etwa 2,4 Millionen Einwohnern/innen Ostpreußens sollen ungefähr 300.000 auf der Flucht ums Leben gekommen sein – durch Tieffliegerangriffe, Krankheiten, Kälte oder Nahrungsmangel. Das schlimmste Erlebnis für Lene ereignet sich im Gedränge am Danziger Hafen. Sie verliert den Kontakt zu ihrer Mutter (weil sie hofft, von einem Jungen etwas zu essen zu bekommen). Während sie mit anderen Menschen auf ein Schiff geschoben wird, bleibt die Mutter am Hafen zurück. Lene sieht sie nie wieder. Mit dem Verlust sind auch Schuldgefühle verbunden. Vor diesem Hintergrund ist die eigenbrötlerische und manchmal grantige Art Lenes gut nachvollziehbar. Sie kann Kattakas Gefühl des Identitätsverlustes besser verstehen als deren Eltern und ist somit die ideale Begleiterin bei der Suche nach dem leiblichen Vater. Die Rückkehr an die Orte ihrer Kindheit löst bei Lene eine tiefe Erschütterung aus, die notwendig ist, damit sie mit ihrer unglücklichen Fluchtgeschichte wenigstens zum Teil ins Reine kommt.
Waldek und sein Großvater: das neue und das alte Polen
In der Danziger Hafenpension
Zur Fledermaus treffen Lene, Kattaka und Knäcke auf den jungen Polen Waldek und seinen Großvater. Waldeks erste Leistung besteht darin, die von Knäcke mitgeschleppten Vorurteile gegenüber Polen zu konterkarieren. Später wird er zum Begleiter und Dolmetscher auf dem letzten Teil der Reise. Zwischen Waldek und Kattaka entwickelt sich eine gegenseitige Zuneigung, aber auch Lene und Waldeks Großvater verstehen sich – und das, obwohl der Großvater kaum deutsch spricht. Mit nur wenigen Sätzen stellen beide fest, dass ihre Lebenswege vergleichbar sind: Während Lene als Deutsche ihre Heimat verlor, die später polnisches Territorium wurde, hat Waldeks Großvater Ähnliches mit seiner Heimatstadt Lwów (früher Lemberg, heute Lwiw) erlebt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt der Sowjetrepublik Ukraine zugesprochen; die polnische Bevölkerung, bis dahin in der Mehrheit, wurde vertrieben. So ist es auch Waldeks Großvater ergangen, der seitdem seine Heimtatstadt nicht mehr besucht hat. Waldeks Eltern pendeln auf einem Frachtschiff zwischen Polen und Deutschland. Der Berufswunsch des Sohnes geht weiter: Er will Kapitän in der internationalen Seeschifffahrt werden – ein Beruf, der gewissermaßen das Gegenteil dessen symbolisiert, was die Generationen vor ihm erlebt haben: Offenheit, Internationalität und Austausch anstatt einengender Grenzziehung und unerbittlicher ethnischer Säuberung.
Die Bäuerin, eine ehemalige Zwangsarbeiterin
Zunächst scheint es sich beim alten Bauernehepaar um typische Vertreter der polnischen Landbevölkerung zu handeln: alte Menschen, die eine bescheidene Landwirtschaft betreiben und von der Entwicklung des modernen polnischen Staates weitgehend abgekoppelt sind. Kattaka und Waldek fällt auf, dass der Bäuerin drei Finger der linken Hand fehlen. Beim Essen scheint der alte Mann seiner Frau mit einer Geste sagen zu wollen, dass sie die verkrüppelte Hand nicht so offen zeigen soll. Die Bäuerin hält sich nicht daran und spricht später unvermittelt darüber, wie es zu dieser Verletzung kam: Sie wurde nach der Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmacht 1939 wie viele andere Zivilisten/innen aus eroberten Gebieten zur Zwangsarbeit herangezogen. Zwangsarbeiter/innen erhielten keinen oder nur einen sehr geringen Lohn und wurden meist in Arbeitslagern unter schlimmen hygienischen Umständen untergebracht. Sie hatten keinerlei Rechte und konnten bei geringen Vergehen ohne Gerichtsverfahren mit dem Tod bestraft werden. Viele polnische Zwangsarbeiter/innen waren in der Landwirtschaft eingesetzt, etliche auch in der Rüstungsindustrie. Dieses Schicksal hat offensichtlich auch die Bäuerin erlitten. Als ihre Finger in eine Maschine gerieten, wurde diese nicht angehalten – eine Aussage, die Kattaka und Waldek schockiert, aber durchaus der zerstörerischen "Logik" des nationalsozialistischen Regimes entspricht. Zwischen 1939 und 1945 arbeiteten mehr als 12 Millionen Frauen und Männer aus ganz Europa im Deutschen Reich. Überwiegend stammten sie aus Polen, Weißrussland, Russland und aus der Ukraine. Es dauerte Jahrzehnte, bis der deutsche Staat den Zwangsarbeitern/innen eine Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht gewährte. Im Jahr 2000 wurde zu diesem Zweck die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" gegründet. Dass das alte Bauernehepaar Lene und ihrem Anhang hilft, ist vor diesem Hintergrund mehr als nur ein üblicher Akt von Gastfreundschaft.
Autor/in: Burkhard Wetekam, freier Autor und Redakteur in Hannover, 04.10.2011
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