Nathalie und Paul sind ein gut situiertes, glücklich wirkendes Paar Mitte/Ende Zwanzig. Ihre Beziehung ist an jenem Punkt angelangt, an dem sie sich ernsthaft für oder gegen einander entscheiden werden. Allerdings wird ein Ungleichgewicht in ihrer Partnerschaft sichtbar, als Nathalie eines Morgens allein am Strand mit Bootsflüchtlingen aus Afrika konfrontiert wird. Sie reagiert instinktiv und unmittelbar: Sie zeigt Mitgefühl und leistet Zola und dessen Sohn Mamadou Hilfe. Aufgewühlt erzählt sie Paul von den Ereignissen, Bestätigung und Unterstützung erwartend. Doch Paul reagiert nüchtern, sagt ihr, sie solle sich heraushalten und hält ihr einen Vortrag über den Zusammenhang zwischen dem Wohlstand Europas und dem Elend Afrikas. Er legitimiert damit seine eigene Passivität. Weil Paul Nathalies Betroffenheit kein Verständnis entgegen bringt, sondern sie zu dominieren versucht, indem er erwartet, dass sie seiner Sichtweise folgt, flüchtet sie sich in Heimlichtuerei. Der daraus resultierende Vertrauensbruch lässt die Beziehung der beiden beinahe scheitern.
In Nathalie und Paul treffen zwei Positionen aufeinander, die auf gesellschaftlicher Ebene in einem konfliktreichen Kontrast zueinander stehen, auf der Ebene der Paarbeziehung aber einer harmonischen Lösung zugeführt werden müssen. Während Nathalie unmittelbare Betroffenheit und naive Hilfsbereitschaft verkörpert, steht Paul für rationalisierte Ohnmacht angesichts globaler Unrechtsstrukturen und Vertrauen in die Lösungskompetenz staatlicher Stellen und Hilfsorganisationen. Die Merkmale Empathie und Vernunft werden dabei geschlechtsspezifisch konservativ zugewiesen: Nathalie öffnet sich bereitwillig dem Mitmenschen im Fremden, Paul verteidigt egoistisch sein Glück zu zweit. Am Ende eines für beide schmerzhaften Prozesses hat Paul immerhin gelernt, dass er Nathalies Sorge ernst nehmen und ihr zuhören muss. Und Nathalie hat erkannt, dass sich nicht im Alleingang, sondern nur im vertrauensvollen Miteinander wirklich helfen lässt.
Der junge Polizist José hat schon lange genug von dem Elend, mit dem er auf seiner Heimatinsel und in seinem Beruf konfrontiert wird. Täglich stranden Boote mit Flüchtlingen aus Afrika, müssen er und seine Kollegen die Toten bergen, die Überlebenden ins Lager bringen, sie befragen und wieder in ihr Herkunftsland zurückschicken. Mit der Zeit hat José sein Herz verschlossen. Er ist zynisch, ungeduldig, ungerecht und gnadenlos. Nicht nur im Umgang mit den schwarzen Fremden, die er allesamt für Wirtschaftsflüchtlinge hält, die den Spaniern Arbeit und Geld wegnehmen und lügen und betrügen, wo sie gehen und stehen. Auch für seine Kollegin Carla hat José überwiegend Hohn und Spott übrig. Carlas Hilfsbereitschaft gründet in ihrem Mitgefühl als Mutter mit jenen Afrikanerinnen, deren Kinder die gefährliche Überfahrt oftmals nicht überleben. Carla weiß, dass sie die Verhältnisse nicht grundlegend ändern kann, versucht aber immerhin im Kleinen zu helfen, indem sie hin und wieder die Papiere fälscht und auf diese Weise dem einen oder der anderen ein vorläufiges Bleiben ermöglicht.
Josés schreckliche Verhärtung erklärt sich durch einen großen Druck, denn nicht nur im Beruf, auch privat sieht er sich mit Unglück konfrontiert: Seine Zwillingsschwester Marielle ist drogensüchtig und droht, endgültig abzustürzen. José, ganz spanischer Macho, kann sich seine Hilflosigkeit ihrer Situation gegenüber nicht eingestehen. Er reagiert mit ungerichteter Aggression und Abschottung. Eben dieser Entschluss, sich weder zu Hause noch bei der Arbeit den Problemen zu stellen – letztlich also: nichts zu tun, nicht zu helfen -, zeitigt sowohl im einen wie im anderen Bereich tödliche Folgen: Marielle stirbt an einer Überdosis, der Flüchtling Zola, den José abschieben wollte und der daraufhin geflohen ist, wird von einem Schlepper lebensgefährlich verletzt. Jetzt erst bröckelt Josés Mauer. Das, was er am Ende tut, um wenigstens Zolas Sohn zu helfen, ist eine Art der Buße, die möglicherweise mit einer großen Schuld einhergeht. Aber endlich übernimmt José Verantwortung.
Ob Zola und Mamadou tatsächlich aus dem Kongo stammen, wie Zola behauptet, oder aus dem Senegal, wie José annimmt, ist insofern eine Frage des Überlebens, als dass der Kongo ein Land ist, in das in der Regel nicht abgeschoben wird. Über Zolas konkrete Gründe für die Flucht erfährt man nichts. Mögliche Motive nennt Paul, als er versucht, Nathalie zum Wegschauen und Nichtstun zu überreden: keine Perspektive dort, Hoffnung auf ein besseres Leben hier. Zola ist ein verantwortungsbewusster Vater, der seinen Sohn liebt und sich um ihn sorgt. Er bewegt sich mit der Würde und dem Stolz eines Mannes, der in seinem Leben bereits etwas erreicht und der Kraft und Talent zu bieten hat. Er leidet sichtlich unter einer Situation, die ihn elend wirken lässt und bedürftig macht. Zugleich aber weiß Zola, dass er ohne fremde Hilfe nicht weiter kommt und es ist dieses Angewiesensein auf Mitmenschlichkeit, die Notwendigkeit, Fremden zu vertrauen, die ihn unvorsichtig und schließlich zum Opfer werden lässt.
Mamadou ist von den Ereignissen, in die er sich gestürzt sieht, so überfordert, wie das von einem Siebenjährigen zu erwarten ist. Seine Reaktionen bewegen sich auf fundamentaler Ebene: Er hat Durst, er hat Hunger, er ist müde, er fürchtet sich. Die Strapazen, die er hinter sich hat, machen sich jedoch in seinem Schweigen, seiner Ruhe, dem abwartenden Blick bemerkbar. Darin, dass er nicht lacht, nicht lächelt, nicht herumtobt – und auch nicht weint oder schreit. Weil aber Mamadou weiß, dass er einen Vater hat, der sich um ihn kümmert und ihn beschützt, strahlt er, trotz allem, Sicherheit und instinktives Vertrauen aus. Dergestalt, dass er sich am Ende sogar weigert, den Tod seines Vaters zu glauben. Zola verliert sein Leben und Mamadou wird um seine Kindheit betrogen, weil José nichts von ihnen wissen will, weil Paul sich nicht einmischen will, weil Nathalie allein gelassen wird. Weil jeder für sich ohnmächtig bleibt und Veränderung nur gemeinsam geht.
Autor/in: Alexandra Seitz, freie Journalistin und Filmkritikerin, 07.05.2012
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