Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus" – das zentrale Motiv aus Wilhelm Müllers "Winterreise", von Franz Schubert seinerzeit musikalisch umgesetzt, klingt bereits im Titel von Tony Gatlifs neuem Film
Gadjo dilo an: 'Gadjo', das ist der Fremde, der eindringt in die ureigene Welt der Roma. Stéfane, ein junger Franzose, wandert ganz allein durch das winterliche Rumänien, außer ihm ist niemand in der Schneewüste zu sehen. Er ist auf der Suche nach der Sängerin Nora Luca, die er nur durch eine Musikkassette mit ihren Liedern kennt. Als er eines Abends auf den alten Roma Izidor trifft, nimmt dieser ihn mit in sein Dorf. Dort wird Stéfane zunächst misstrauisch beäugt und als Hühnerdieb beschimpft. Die Dorfgemeinschaft versteht nicht, warum ihr Anführer Izidor den Franzosen sogar bei sich hat übernachten lassen. Argwohn schlägt plötzlich beiden entgegen, doch Izidor ergreift Partei für seinen Schützling. Fortan sind sie zusammen, der Hochzeitsmusiker Izidor und der Franzose Stéfane, und mehr und mehr akzeptiert die Dorfgemeinschaft den 'Gadjo dilo', was in der Sprache der Roma entgegen dem deutschen Verleihtitel ‚verrückter Fremder' bedeutet. Als Stéfane die junge und freigeistige Sabina kennen- und lieben lernt, wird die kulturelle Annäherung auf eine neue Belastungsprobe gestellt. Ihre Liebe muss zunächst geheim bleiben, bis Sabina sich für einen gemeinsamen Weg mit Stéfane entscheidet . . .
Tony Gatlif schließt mit
Gadjo Dilo, der 1997 in Locarno den Silbernen Leoparden erhielt, seine "Zigeuner-Trilogie" ab, zuvor drehte er bereits
Les Princes (1983) und
Latcho Drom (1992/93).
Les Princes schildert das triste Alltagsleben der in der Pariser Banlieue lebenden Roma,
Latcho Drom folgt den (musikalischen) Spuren der Roma quer durch ganz Europa.
Gadjo Dilo dürfte der persönlichste Film dieser Trilogie sein, und Regisseur Gatlif macht darin das Fremdsein, das Unbehaustsein des Wanderers zwischen den Welten zum Thema. So wie die Umwelt den Roma misstrauisch und abgrenzend begegnet, so verhalten sich die Bewohner jenes rumänischen Dorfes nun gegenüber dem Fremden Stéfane: Vorurteile und Berührungsängste als Selbstbespiegelung, als Impetus auch, das eigene Verhalten zu überdenken und den anderen mit seinem mitgebrachten Mikrokosmos zu akzeptieren. Tony Gatlif zeigt dies auf einfühlsame und subtile Weise, ohne kulturell einseitig zu interpretieren oder parteiisch zu wirken. Der Zuschauer entwickelt sowohl Sympathie und Verständnis für Stéfane, als auch für die Roma und ihre Kultur und Lebensweise. Das ist wohl auch die große Leistung des Regisseurs, dass dieser kleine und unprätentiöse französisch-rumänische Film seinen hohen Anspruch zu halten vermag, ohne bei dieser diffizilen Gratwanderung in ein Extrem abzugleiten und zu politisieren.
Die langsame Annäherung zwischen Stéfane und den Roma vollzieht sich auf mehreren Ebenen. Zunächst ist da Stéfanes ungezwungene Offenheit für deren Kultur und seine Begeisterung für Musik, welche das ausschlaggebende Moment für seine spätere Akzeptanz sein dürfte. Natürlich sind ihm die Rituale und Bräuche fremd, doch reagiert er hierauf eher mit jungenhafter Neugier. Seine Annäherung wird anfangs ausschließlich über den alten Izidor kanalisiert, der Stéfane an die Roma-Musik heranführt und ihn schließlich gar auf Hochzeiten mitnimmt, auf denen Izidor mit seiner Geige eigenwillig musiziert. Stéfane wird von den Roma zunehmend als Izidors 'Anhang' gesehen, quasi als sein Adlatus verstanden, so dass seine Einbindung in das Dorfgeschehen durchaus als gelungene Integration bezeichnet werden kann. Eine wichtige Rolle dabei spielt auch Sabina, die früher einmal in Belgien lebte und in der Dorfgemeinschaft als Außenseiterin gilt. Da sie beide Kulturkreise aus eigener Erfahrung kennt, fällt ihr der Brückenschlag leichter, als den meisten anderen Bewohnern des Dorfes. Durch Stéfanes Verbindung zu Sabina und ihrem gegenseitigen Bekenntnis zu ihrer Liebe wird eine fundamentale kulturelle Gegensätzlichkeit plötzlich zur unwichtigen Nebensache. Neben dem Schauspieler-Paar Romain Duris und Rona Hartner sind es die Laiendarsteller, die Roma aus dem richtigen Leben, die das Flair dieses Films ausmachen.
Gadjo Dilo ist ein heiter-melancholisches Plädoyer für ein verständnisvolleres Miteinander, und Tony Gatlif findet hierfür bewegende Zwischentöne, visuell und musikalisch gleichermaßen. In ihnen stecken all die Schreie, denen ansonsten nur wenig Gehör verschafft wird.
Autor/in: Thilo Wydra, 01.08.1998