Am Anfang sieht man nur Gesichter: unterschiedliche, faltige Gesichter, in die sich die Geschichten ihrer indianischen, afroamerikanischen oder europäischen Vorfahren eingeschrieben haben, die von der Arbeit erzählen, von der es oft zu wenig, und von der Armut, von der es immer zuviel gibt. Die Menschen sprechen frontal in die Kamera zu einem imaginären Gegenüber, bitten um Beistand, beschwören die Rückkehr des Ehemannes, grüßen die enfernte Geliebte oder 'bedanken' sich bei einem, der ihnen geschadet hat.
Central Station beginnt wie ein Dokumentarfilm und wird auch im weiteren Verlauf den dokumentarischen Blick (zum Glück des Zuschauers) nie ganz aufgeben. Wo aber der Platz der Kamera ist – gegenüber diesen beredten Gesichtern, sitzt jetzt Dora, eine ehemalige Lehrerin, die sich im Hauptbahnhof von Rio de Janeiro mit Briefeschreiben für Analphabeten ihren Lebensunterhalt verdient. Manche Briefe wird sie abschicken, andere nicht. Dora ist siebenundsechzig und die Einsamkeit, die Widrigkeiten des Lebens und der unaufhörliche Fluß verzweifelter Gesichter haben sie gleichgültig und verhärmt werden lassen. Doch eines Tages verunglückt eine Kundin vor dem Bahnhof tödlich und deren zehnjähriger Sohn bleibt ohne Familie, ohne Schutz zurück. Zunächst beobachtet Dora den Jungen skeptisch, dann versucht sie ihn an Organhändler zu verkaufen, und schließlich begibt sie sich mit ihm auf die beschwerliche Suche nach seinem Vater, der im fernen Nordosten des Landes wohnen soll. Für beide wird es eine Reise zu ihren Wurzeln, an deren Ende Josué eine Familie und Dora einen Teil von sich selbst wiederfindet.
Mit
Central Station des überwiegend dokumentarisch arbeitenden Regisseurs Walter Salles kommt ein hochdekorierter Spielfilm (Drehbuchpreis des renommierten Sundance Festivals, Goldener und Silberner Bär der Internationalen Filmfestspiele Berlin 1998) in unsere Kinos, in denen der außereuropäische und nichtamerikanische Film praktisch ausgestorben ist. Dennoch hat dieser Film gute Chancen sein Publikum zu finden. Da ist zum einen das bewegende Spiel zwischen der pragmatisch-berechnenden Dora, die Männer als Versager und Gefühle als bloße Illusionen verachtet, und dem trotzig-starken Josué, dessen Glauben an seinen tollen, unbekannten Vater unerschütterlich ist. Beide agieren mit hoher Intensität: Fernanda Montenegro als Dora ist eine begnadete Theaterschauspielerin, für die Rolle des Josué wurde ein 'echtes' Straßenkind entdeckt. Die Intensität der Schauspieler entspricht der Präzision und erzählerischen Prägnanz des 44jährigen Walter Salles auf der inszenatorischen Seite.
Man braucht als durchschnittlich informierter Zuschauer nichts zu wissen von den katastrophalen Auswirkungen der Industrialisierung Brasiliens. Sie werden in diesem Film wie nebenbei erzählt, und doch sind Landflucht und das Drama der Mega-Städte allgegenwärtig. Wenn im ersten Teil des Films, der in Rio spielt, die Kamera zum Beispiel Mühe hat, die Hauptpersonen zu fixieren, weil sich unablässig ein Strom gesichtsloser Menschen vorbeischiebt, wenn das Einsteigen in die Vorortzüge über Fenster und Dachluken erfolgt und derjenige das Nachsehen hat, der – mangels Gelenkigkeit – nur die Türe benutzen kann, dann erzählen diese Einstellungen auch davon, wie schwierig es ist, in einer Stadt, die täglich kollabiert, seine Menschlichkeit zu bewahren. Man braucht nichts zu wissen von dem gesellschaftlichen Desaster der zerstörten Familien, von den Millionen Frauen und den Aber-Millionen Kindern, die von ihren Männern und Vätern verlassen wurden, den Straßenkindern, die von Diebstählen leben und dabei täglich ihr Leben riskieren, man braucht nichts zu wissen von dem tiefverwurzelten Katholizismus der Brasilianer – alles gibt es in Salles Film zu sehen auf eine eindringliche, nicht aufdringliche Weise. Zugegeben, der Schluß hat Schwächen. Das geblümte Kleid und der Lippenstift als Symbol und Bekenntnis für Doras lang verleugnetes 'Frau-Sein' kann man – gerade auch in Bezug auf den thematisierten brasilianischen Machismo – für fragwürdig halten. Das Gleiche gilt für den von Dora inszenierten, brutalen Abschied von Josué, der eigentlich ein schlechtes Muster ihrer anfänglichen Beziehung wiederholt. Im Gedächtnis haften bleiben aber diese unglaublich leuchtenden Gesichter von zwei Menschen, die sich – nach vielen Fehlschlägen – einander anvertraut haben.
Autor/in: Claudia Brenneisen, 01.12.1998