Chancen
Der Mensch ist ein Produkt seiner Gene, seiner Erziehung, seiner Veranlagungen – aber auch seiner Umgebung. Eine beklemmende Vorstellung: der Lebenslauf eines Menschen vorgezeichnet allein schon durch seine soziale Herkunft. Auch im Arbeiterviertel Ruchill, in dem Ken Loachs Film spielt, ist der Ort der Geburt ausschlaggebend für den Lebenslauf – Ähnliches gilt für alle sozialen Brennpunkte dieser Erde: Eine Geburt in beengte räumliche und finanzielle Verhältnisse, Eltern bei der Vermittlung von Erziehungswerten überfordert und oftmals viel zu sehr damit beschäftigt, im Dschungel des Ghettos zu überleben. Kinder wachsen ohne Halt und Orientierung an positiven Werten auf, Grenzen werden nicht selten durch die Bedürfnisse der Eltern diktiert und mit körperlicher Gewalt demonstriert. Lehrer kapitulieren oft vor den Aggressionen ihrer Schüler, die Vermittlung von Wissen oder ethischen Werten kommt zu kurz. Schulabschlüsse sind Mangelware, Aussicht auf einen Beruf gibt es nur wenig, der Konsumdruck wird durch Straftaten realisiert, der Griff zu Alkohol und Drogen, meist durch elterliches Vorbild hinreichend bekannt, ist nur eine Frage der Zeit.
Chancengleichheit? Natürlich gibt es auch Verwahrlosung in Wohlstandsvierteln und Eltern, die mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Doch dort fällt eine solche Situation eher auf und die Umgebung, seien es Freunde, Bekannte oder soziale Institutionen, reagieren frühzeitig, und sei es nur, um die soziale Schmach zu vertuschen. In Ghettos wie Ruchill greift dieser soziale Mechanismus nicht. Das Abweichende ist das Normale, Hilfe von außen kommt nur, wenn Staat oder Gemeinde sich unmittelbar einmischen. Erst in neuerer Zeit erkannte man, dass diese Einmischung in konstruktiver Form, also durch Sozialarbeit, auch für die übrige, 'normale' Gesellschaft dringend notwendig ist, um das soziale Gefüge für alle zu erhalten.
Heute versucht die Sozialarbeit Chancengleichheit zu schaffen; verschiedene Stufen der 'Einmischung' bis hin zum Streetworker werden umgesetzt. Aber jede Sozialarbeit kommt von außen, muss also erst in das Umfeld der Betroffenen eindringen und bleibt damit fremd. Nur in seltenen Ausnahmen gelingt es einem professionellen Helfer, eine so starke Beziehung zu einem der Betroffenen aufzubauen, dass dieser es schafft, stärker zu sein als das bisherige Umfeld.
Armut und Verwahrlosung bedingen einander; für den Betroffenen können sie jedoch auch ein identitätsstiftendes Merkmal sein. Das Unvermögen, sich von diesem Verständnis von Geborgenheit abzuwenden, bedingt ebenfalls Chancenlosigkeit. Chancengleichheit ist eine Utopie und gleichzeitig ein Programm, eine Aufgabe, an deren Erfüllung von denen gearbeitet werden muss, die bessere Chancen hatten, weil sie zufällig nicht in diese Umgebung hinein geboren wurden.
Autor/in: Simone Lepetit, 11.12.2006