KIndern eine Chance geben
Die Voraussetzungen eines vielversprechenden Erziehungs-Systems sind obsolet geworden. Von jenseits der französischen Grenzen schauen oder schauten viele interessierte Laien und Fachleute immer wieder neidvoll auf das System der französischen "écoles maternelles": Einrichtungen, die halb Kindergarten, halb Vorschule sind. Dort betreuen gut ausgebildete Pädagogen Jungen und Mädchen schon ab zwei Jahren und fördern sie, ihren Spieltrieb und ihre Kreativität zu entwickeln, das Sozialverhalten zu schulen und sich dabei, quasi nebenher, die Grundlagen für die spätere Schullaufbahn anzueignen. Die école maternelle, kostenfreier Hort der Geborgenheit, spart vielen Eltern den Babysitter und ermöglicht Vätern wie Müttern tagsüber ihrer Arbeit nachzugehen. – So weit die Theorie. Was aber wenn diese Väter und Mütter gar keine Arbeit mehr haben?
Tatsächlich sind Einrichtungen dieser Art vor allem in strukturschwachen, von akuter öffentlicher und privater Armut bedrohten Regionen zu einem Anachronismus geworden. So mancher Hardliner mag gar der Auffassung sein, wenn die Eltern nicht mehr arbeiten und damit mehr Zeit für ihre Kinder hätten, könne man auch die öffentliche Hand entlasten. Das sind zynische Erwägungen, denn was ursprünglich als positive Ergänzung des sozialen Netzes intendiert und konzipiert war, ist inzwischen zu einer akuten Rettungs- und Notfallinstanz geworden, mit der die Folgen von Arbeitslosigkeit und voranschreitendem sozialem Elend zumindest dürftig abgefedert werden, um nicht mit voller Wucht auf die nächste Generation einzuwirken.
Der Film Es beginnt heute zeigt, wie sehr die mit diesem Thema täglich befassten Menschen gleich Fußsoldaten eines beinahe schon aufgegebenen Vorposten in einem verlorenen Krieg agieren, wie sie sich mit permanenten Notbehelfen durchschlagen und mit ihrer permanenten "Flickschusterei" dennoch langfristig und präventiv gegen gesellschaftliche Auflösung wirken. In einer Szene zum Beispiel bringen Eltern ihr dreijähriges Kind nicht in die école maternelle, weil sie wegen anhaltender Arbeitslosigkeit einfach vergessen haben, den Wecker zu stellen. Einerseits ist diesem Paar das Verständnis des Regisseurs gewiss, doch unbeugsam fordert der Film auch die elterliche Verantwortung und Kampfbereitschaft ein, die Arbeitslosigkeit daran zu hindern, bereits die Kinder zu infizieren: "Sie haben kein Recht, das Handtuch zu werfen!"
Tavernier rückt in seinem Film Menschen – für ihn sind es moderne Helden des Alltags – in den Mittelpunkt, die unmittelbar den Widersprüchen der gesellschaftlichen Welt ausgesetzt sind und sie als persönliche Dramen erleben. Sie machen dabei auch viele Fehler, hetzen wie besinnungslos von einem sozialen Feuerwehreinsatz zum nächsten und verspüren in den raren Momenten der Besinnung fast zwangsläufig den Impuls, alles hinzuschmeißen und implodieren zu lassen. Diesen Impuls im Zaum zu halten vermag lediglich jenes geradezu vegetativ gesteuerte Empfinden, es nicht zu ertragen, wenn man einem Kind Schmerzen oder Schaden zufügt – gleichgültig, ob das Beschädigungen physischer, psychischer oder seelischer Art sind. Der französische Gesellschaftskritiker Pierre Bourdieu hat für solche Bestrebungen, die sich gegen rein materialistische Erwägungen und Entscheidungen in Politik und Finanzwesen richten, den Begriff des "Gegenfeuers" geprägt und bezeichnet Menschen (z. B. Familienhelfer, Erzieher, kleine Beamte und Lehrer der verschiedenen Schultypen), die in diesem Bereich tätig sind, als die "linke Hand" des Staates. Diesen Menschen erweist Tavernier mit seinem Film Referenz und erinnert dabei Politiker, Fachleute und Zuschauer an die Errungenschaften, die sich unsere Gesellschaft in Feiertagsreden so gerne zugute hält.
Autor/in: Ralph Eue, 11.12.2006