Marvins Raum zu betreten, kostet Überwindung, denn hier wohnt ein alter Mann, der am Leben keinen Anteil mehr nehmen kann, seit er nach einem Schlaganfall zum 'Pflegefall' wurde. Den Besucher beschleicht Unsicherheit, gepaart mit Mitleid und Sprachlosigkeit, vielleicht auch nur Langeweile. Solche Gefühle sind heutzutage 'normal' geworden, denn unsere westliche Zivilisation hat für die Konfrontation mit Krankheit und Tod keine Umgangsformen, keine 'Kultur' mehr anzubieten. Nur wer selbst mit den Alten und Kranken lebt, kann sich in diesem Raum wirklich ungezwungen bewegen – wie Bessie. Seit 20 Jahren kümmert sie sich liebevoll um ihren Vater Marvin und seine etwas betuliche Schwester Ruth. Dabei wirkt sie fröhlich und ausgeglichen, wo Wut, Verbitterung, und die Miene einer Ewig-zu-kurz-Gekommenen zu erwarten wären. Das klingt beinahe nach einem kleinen Wunder, aber nicht nach einem spannenden Filmstoff. Tatsächlich geht es in diesem Film auch weniger um die Kranken, als um die Frage, wer für diese einsteht.
Bessies Schwester Lee hat immer ihr eigenes Leben führen wollen, weit weg von diesem Haus des Siechtums und vermeintlichen Stillstands. An ihrer kleinen Karriere als Friseurmeisterin hat sie hart gearbeitet, war in der Erziehung ihrer beiden Söhne Hank und Charlie auf sich allein gestellt, ständig im Clinch mit aggressiven und offensichtlich verantwortungsscheuen Männern. Auch Lee hat also ihr "Päckchen im Leben zu tragen". Hank droht ihr gar völlig zu entgleiten; in einem Anfall von wilder Rachsucht steckte er das elterliche Haus in Brand und sitzt in der Psychiatrie, als Lee die nächste Hiobsbotschaft ereilt: Bessie hat Leukämie, eine rechtzeitige Transplantation von Rückenmark eines nahen Verwandten könnte sie vielleicht noch retten. So kommt nach Jahren die Familie wieder zusammen. Hank, wegen des familiären Notfalls vorzeitig aus der Psychiatrie entlassen, weigert sich aber hartnäckig, einen Knochenmarkstest an sich vornehmen zu lassen. Doch nun erlebt er zum ersten Mal, dass Familie mehr ist als das festgezurrte Geflecht aus Mutter, (abwesendem) Vater und Kindern, in dem jeder spontan, allergisch und eruptiv auf Stimmung und Haltung des anderen reagiert, und in dem Erfahrungen nicht mehr relativiert und Missverständnisse nicht mehr ausgeräumt werden können, weil jeder Ansatz zum Gespräch gleichzeitig eine Sprengladung aktiviert. Allein Bessie entschärft auch diese Bombe zwischen Mutter und Sohn, weil sie etwas kann, was die aktive, umtriebige Lee nie gelernt hat: hinnehmen, geschehen lassen und zuhören. So wird die Begegnung der unterschiedlichen Schwestern in der Konfrontation mit Alter, Krankheit und nahendem Tod auch eine Abrechnung ihrer beider Leben.
Die Wendung vom Passiven zum Aktiven, Bessies Umdeutung der vermeintlichen Aufopferung als Selbstverwirklichung – ein traditionelles weibliches Rollenverhalten – wird zum eigentlichen Kernpunkt des Films, der mit seinen zahlreichen Gesprächssequenzen und lnnenaufnahmen oft wie verfilmtes Theater wirkt.
Marvins Töchter basiert auf dem gleichnamigen Drama von Scott McPherson, in dem er nicht nur Erlebnisse seiner Kindheit, sondern vor allem die Pflege seines aidskranken Freundes künstlerisch und mit viel Humor verarbeitet hat, bevor er selbst an dieser Krankheit starb. Dem Film kommt seine hochkarätige Besetzung sehr zugute, neben den bewährten Oscar-Preisträgern Diane Keaton, Meryl Streep und Robert de Niro (der auch den Film mitproduzierte) agiert der hochsensible shooting star Leonardo DiCaprio, der mit seiner Präsenz auch jüngere Zuschauer für
Marvins Töchter zu interessieren vermag.
Bedenklich und diskussionswürdig bleibt allerdings die bittere Botschaft des Films: Die Sorge um die Familie, die Pflege der Alten und Kranken ist und bleibt Frauensache. Mit Ausnahme von Bessies geduldigem Arzt, der Verantwortung für seinen 'wunderlichen' Bruder übernimmt, zitiert der Film eine vater- und männerlose Gesellschaft. Fragen nach Alternativen zur aufopferungsvollen Pflege der Frauen oder nach der Rolle der Gesellschaft bei der Versorgung ihrer 'ineffizienten' Mitglieder werden nicht gestreift. Statt dessen suggeriert der Film, das Glück der Frau und ihre Selbstverwirklichung wurzelten allein in der Familie, eine sehr konservative und traditionelle Sicht der Geschlechterrollen, die eigentlich schon für überwunden galt, aber offensichtlich wieder auf dem Vormarsch ist.
Autor/in: Claudia Brenneisen, 01.06.1997