Interview
"Es existierte eine Kultur des Schweigens"
Färberböck, geboren am 22. September 1950 in Degerndorf, Oberbayern, ist Regisseur, Drehbuchautor und Produzent. Sein Spielfilm
Aimée und Jaguar(Deutschland 1998) wurde für den Golden Globe nominiert, in
September (Deutschland 2003) setzte er sich mit dem 11. September 2001 auseinander.
Anonyma – Eine Frau in Berlin ist die Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers, in dem eine bis zu ihrem Tod anonym gebliebene Autorin in Tagebuchform über die bis heute tabuisierten Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs berichtet.
Das Interview führte Kirsten Liese.
An der Authentizität der Buchvorlage sind in jüngerer Zeit Zweifel aufgekommen. Hannelore Marek, Witwe des Mentors der anonymen Verfasserin, hält die handschriftlichen Originale unter Verschluss. Inwieweit standen Sie in Kontakt zu Frau Marek?
Färberböck: Ich selbst habe das Original nicht eingesehen, aber von Frau Marek aufschlussreiche Dinge über die Verfasserin erfahren. Sie war Journalistin und wir haben so ziemlich alles, was wir von ihr bekommen konnten, studiert. Einiges zeigt deutlich, dass Anonyma systemkonform gearbeitet hat. Anders war es auch nicht möglich. Die deutschen Frauen dieser Zeit waren Mitläuferinnen und Opfer zugleich, das ist der schmale Grat, auf dem sich die historische Forschung und der Film bewegen. Anonyma schreibt in ihrem späteren Tagebuch über das auch von ihr selbst bejahte, übertriebene Männerbild des Dritten Reichs. Im Grunde genommen vermittelt sie, ohne es direkt auszusprechen, eine Botschaft, nämlich dass die zweifellos vorhandene Heldenverehrung durch die Frauen immer in Enttäuschung endet.
Würden Sie vor dem Hintergrund Ihrer Recherchen zu dem Ergebnis kommen, dass eine Art Bewusstseinswandel bei den Frauen stattfand?
Absolut. Aber es existierte eine Kultur des Schweigens. Die Männer haben nicht gefragt, was mit den Frauen passierte. Und die Frauen schwiegen, weil sie sofort spürten, dass kein Mann damit umgehen konnte. Die Unfähigkeit der Männer, mit der Vergewaltigung der eigenen Frau umzugehen, ist ein sehr altes Thema. Obwohl die Frauen keine Schuld trifft, bleibt immer ein Unbehagen zurück. Das habe ich über die Figuren von Gerd und Herrn Hoch erzählt, die aus dem Krieg zurückkommen und mit dem, was sie sehen, einfach nicht zurecht kommen. Die andere Seite des Schweigens betrifft die Taten der Männer. Man schwieg. Kaum eine Frau fragte ihren Mann, was genau er im Krieg gemacht hat. Sie wollten es nicht wissen. Im Film nimmt Anonyma in Konfrontation mit dem jungen Russen, der von den Massakern der deutschen Wehrmacht in einem russischen Dorf berichtet, ihre ganze Kraft zusammen und fragt ihn: "Gehört oder gesehen?" Es ist das letzte Aufbäumen gegen eine Wahrheit. Danach ist sie wie gelähmt, die Erkenntnis tickt wie eine Bombe in ihr. Und so wird es natürlich vielen Frauen gegangen sein.
Inwiefern haben Sie Ihre Recherchen über das Buch hinaus vertieft?
Ich habe weitere Tagebücher aus dieser Zeit recherchiert, die teils verheerende Dinge offenbaren, vor allem aus Ostpreußen. Es gibt mehr Tagebücher als man denkt. Überhaupt haben wir alles gelesen, was an persönlichen Berichten, Briefen oder Protokollen aus dieser Zeit veröffentlicht wurde. Wir haben etwa sieben Monate lang beide Seiten, die deutsche und die russische – von der wir in Deutschland viel zu wenig wissen – recherchiert. Die Russen sind für uns eine "Marke", sonst nichts. Aber irgendwann lernten wir sie kennen. Sie wurden Personen, bekamen eine Sprache, stellten Forderungen. Die Zeit begann in uns zu arbeiten.
Lange Zeit war es undenkbar, den Blick auf die Deutschen als Opfer des Krieges zu richten. Als Helke Sander 1992 in ihrer Dokumentation Befreier und Befreite der Frage nachging, wie viele Frauen in Berlin 1945 von den Vergewaltigungen betroffen waren, erntete sie Kritik. Wie positionieren Sie sich in dieser Diskussion?
Das Thema meines Films ist nicht das Leiden der Deutschen. Dieses Leiden ist aber eine Tatsache. Und so behandeln wir es. Dokumentarisch, alltäglich und ohne Sentiment. Das Thema des Films sind auch nicht primär die Vergewaltigungen, sondern wie die Frauen damit umgehen. Wir erzählen von der Gewalt im Aufeinanderprallen zweier verfeindeter Völker, totaler Okkupation und dem allmählichen Einsickern von Menschlichkeit. Die Vergewaltigungen waren eine Katastrophe riesigen Ausmaßes. Sie haben vermutlich die Zukunft zigtausender Familien zerstört. Der Film zieht aus diesen Ereignissen keinerlei gewaltpornographisches Spannungsmaterial. Er beschäftigt sich mit Überleben. Dem zerbrechlichen Versuch, im absoluten Chaos einen Rest von Würde oder vielleicht sogar das Leben zu retten. Das gilt für beide Seiten: die deutsche und die russische.
Wie kam es dazu, dass Sie sich dieses Sujets überhaupt angenommen haben?
Anonyma hat versucht, verschiedene Wahrheiten zu sehen. Auch die der Russen. Sie wollte nicht nur protokollieren, sondern verstehen. Sie schrieb über Dinge, die keiner wissen wollte. Diese Weigerung, über das zu schweigen, was das Leben so vieler Frauen ruinierte, war nicht nur mutig, sondern eben auch sinnvoll. Wie oft war es das allgemeine Schweigen, das eine Gesellschaft ins Unglück stürzte.
Auch wenn es nicht Ihre primäre Intention war, so leistet der Film doch einen Beitrag zum Thema sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen, die nach wie vor weitläufig als "Kollateralschaden" angesehen wird. Inwiefern kann man heute junge Menschen dafür sensibilisieren?
Wenn man einen historischen Film macht, finde ich es interessant, wenn eine Frage übrig bleibt, die sich ins Heute zieht. Hier könnte es die Frage sein: Könnte man eine Großmutter, die sich hingeben musste, um zu überleben – in einem Fall auch zu einer erfüllten Liebesnacht mit einem Feind kommt – heute verstehen? Eine solche Frage hat damit zu tun, wie weit wir unser moralisches Verständnis weiten können für Dinge, die einen wirklichen Tabubruch bedeuten. Anonyma hat jedes Klischee zerstört, auch das Klischee von der schnoddrigen Berlinerin, die zehn Mal vergewaltigt wird und immer noch einen kessen Spruch auf der Lippe hat. Es gibt viele Momente, in denen ohne Sentiment anklingt, dass sie am Ende ist. In ihrer Schilderung einer erfüllten Liebesnacht mit dem Major ging sie weit über die auch heute noch gültigen Moralvorstellungen hinaus: So etwas darf nicht sein. Sie erzählte es trotzdem. Warum? Für spätere Generationen. Vielleicht.
Autor/in: Kirsten Liese, Publizistin mit den Schwerpunkten Film, Frauen und Musik, 25.09.2008
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