St. Petersburg im Februar 1917: Der Zar hat abgedankt, die provisorische Regierung die Macht übernommen, auf den Straßen herrscht die permanente Demonstration. In diesen Wirren suchen auch die Künstler nach einer Position. Welche Partei bringt im Krieg mit Deutschland, der täglich Opfer fordert, am sichersten den Frieden? Wie mischt man sich ein? Der Schriftsteller Maxim Gorki und Alexandre Benois, Maler und Kritiker, gründen spontan eine Kulturbehörde zum Schutz von Denkmälern. Die Intellektuelle Sinaida Hippius ist mit allem unzufrieden, der junge Poet Wladimir Majakowski berauscht vom Aufstand der Massen. Mit Lenins Ankunft aus Zürich und der nahenden Machtübernahme der Bolschewiki wandelt sich manche Meinung.
Mit
1917 – Der wahre Oktober wirft Katrin Rothe einen sehr persönlichen Blick auf den Vorabend der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" – als Künstlerin interessiert sie sich für Künstler. Als Mittel dient ihr die klassische Animation der
Legetricktechnik, bei der ausgeschnittene Formen Bild für Bild bewegt und fotografiert werden. Mit Materialien wie Wellpappe, Spannholz, Schnüren und Stoff entstanden so jeden Tag 20 Sekunden Film. Die detailreichen Charakteristika der handelnden Figuren prägen sich schnell ein: Sinaida Hippius trägt ein weißes Kleid aus Luftpolsterfolie und einen strengen Gesichtsausdruck, unter Majakowskis Filzkappe wechseln ein keckes Grinsen und bebender Zorn einander ab. Zur weiteren Veranschaulichung der Ereignisse dienen, neben dokumentarischem Foto- und Filmmaterial, gezeichnete Landkarten, Stadtpläne, Gebäudeskizzen und Massenszenen aus Scherenschnitt. Neben dieser abstrahierenden Formensprache erinnert auch die
Filmmusik an die Zeit der russischen Avantgardekunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
1917 – Der wahre Oktober, Trailer (© Filmokratie)
Lenins Oktoberrevolution bereitete nicht nur dem absolutistischen Zarentum, sondern auch einer erwachenden Bürgergesellschaft ein jähes Ende. Figuren, Motive und einschneidende Ereignisse jener wichtigen Phase zwischen Februar und Oktober 1917 werden im Film auf anschauliche Art lebendig. Neben diesen geschichtlichen Aspekten sollte in den künstlerischen Fächern auf die ästhetischen Mittel der Animation eingegangen werden. Wie hätte eine "klassische" TV-Dokumentation ausgesehen? Warum zieht die Filmemacherin papierne Zeitzeugen den üblichen Experten vor? Ganz bewusst stellt Rothes individueller Blick auf die Geschichte auch die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Künstler/-innen. Ihre Ideen und Visionen können die Gesellschaft voranbringen, zugleich droht die Gefahr totalitärer Ideologien. Wie der Film und die Geschichte zeigen, wird in der Regel beides enttäuscht.
Dieser Text ist eine Übernahme des
VISION KINO-FilmTipps.
Autor/in: Philipp Bühler, 01.05.2017, Vision Kino 2017.
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