Im zaristischen Russland des späten 19. Jahrhunderts ist Anna Karenina ein Mittelpunkt der Sankt Petersburger Gesellschaft. Mit dem Ziel, die Ehe ihres untreuen Bruders Oblonskij zu retten, reist sie nach Moskau. Im Zug lernt sie Gräfin Wronskij kennen, die von ihrem Sohn am Bahnhof erwartet wird und der Anna nach der ersten Begegnung heftig umwirbt. Anna, in einer pragmatischen Ehe mit dem älteren Regierungsbeamten Karenin gefangen, verliebt sich leidenschaftlich in den jungen Kavallerieoffizier. Für ihn verlässt sie Mann und Sohn und wird zur gesellschaftlich Ausgestoßenen. Doch die Trennung von ihrem Kind und die Abhängigkeit von Wronskij münden in eine seelische Zerrüttung, aus der Anna nur einen Ausweg kennt.
Der Brite Joe Wright, der wie gewohnt auch in
Anna Karenina besonderen Wert auf Ausstattung und Kostüme legt, inszenierte nach einem Drehbuch von Tom Stoppard den Klassiker der russischen Literatur in symbolträchtiger Verfremdung: Statt die Geschichte wie in vorigen Filmadaptionen naturalistisch zu bebildern, verlagert er den Schauplatz der Handlung in und hinter Theaterkulissen – so dient zum Beispiel der Schnürboden als Straße. Dieser artifizielle Kniff, kontrastiert von einer
beweglichen Kamera, zeigt Annas Eingesperrtsein im äußeren Schein. Die sinnliche Sprengkraft ihrer Liebe zu Wronskij wird mittels eines angedeuteten Tanztheaters, in dem die beiden von erstarrten Paaren umstellt sind, deutlich. In einer Parallelhandlung zieht sich Oblonskijs Freund Lewin auf sein Landgut zurück. Dabei öffnet sich das Theater wie ein Gefängnistor auf das weite Land, und Lewins arbeitsames Leben unter freiem Himmel drückt sich auch ästhetisch als positiver Gegenentwurf zu Annas Schicksal aus.
Die bildstarke Verfilmung lebt von Annas Emotionalität. Hauptdarstellerin Keira Knightley als omnipräsente, verletzliche Heldin macht es vor allem Mädchen leicht, sich in diese gequälte Frauenfigur hineinzudenken. Davon ausgehend lassen sich die Doppelmoral der damaligen Gesellschaft und Bezüge zum heutigen Geschlechterverhältnis diskutieren. Die religiös gefasste Moralphilosophie von Romanautor Leo Tolstoi, die sich auch im Gegensatz zwischen der gesellschaftlichen Bühne der Stadt und dem von erstarrten Konventionen freien Land ausdrückt, bietet sich im Ethik- und Religionsunterricht zur weiteren Erläuterung an. Die Darstellung des Feudalsystems etwa 40 Jahre vor der russischen Revolution mit ihren Streiflichtern auf Leibeigene, Adlige und Anarchisten/innen kann im Geschichtsunterricht vertieft werden. Nicht zuletzt ist die artifizielle Inszenierung ein Thema für den Kunstunterricht.
Autor/in: Birgit Roschy, 05.12.2012
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