Der gelangweilte Mittzwanziger Roman aus München digitalisiert für einen Staatsanwalt Gerichtsakten. Weil wichtige Akten zu einem Amoklauf mit 17 Todesopfern an einem Gymnasium fehlen, schickt ihn sein Arbeitgeber ins winterliche Allgäu. Wider Erwarten muss Roman länger bleiben und wird Opfer der aggressiven Übergriffe von Dorfbewohnern/innen. Doch er lernt auch die traumatisierte Schülerin Laura kennen, die den Angriff überlebt hat und ihm die leerstehende Schule zeigt. Zwischen beiden entwickelt sich eine zarte Vertrautheit, die Roman aus seiner Lethargie reißt und Laura hilft, ihre seelischen Verletzungen zu überwinden. Als sie ihm das Tagebuch des Attentäters anvertraut, erschließen sich für Roman allmählich die Beweggründe des Täters.
Anders als Gus van Sant in seinem Meisterwerk
Elephant (USA 2003) zeigt Regisseur Thomas Sieben die Gewalttat nicht. Sie erschließt sich retrospektiv über eine Kombination aus vier Blickwinkeln: die Ermittlungsakten, das Tagebuch, die Neugier des fremden Besuchers und die Erinnerungen der Tatzeugin. Gerade die Distanz des unbeteiligten juristischen Assistenten erleichtert dem Publikum, sich dem Verbrechen frei von Voyeurismus zu nähern. Diese kühle Erzählweise wird wirkungsvoll unterstützt durch eine fahle
Lichtgebung ruhige
Schnittfolgen und den weitgehenden Verzicht auf
Filmmusik. Dazu kommt der häufige Einsatz einer starken Ton-Bild-Schere, wenn Roman aus dem Off Aktenpassagen einspricht, während im Bild verschneite
Alpenpanoramen zu sehen sind.
Seit 2002 haben sich an deutschen Schulen sechs Amokläufe ereignet. Indem der Film über das Tagebuch des Täters aufschlussreiche Blicke in dessen psychologische Disposition wirft, kann er helfen, Schüler/innen und Lehrkräfte frühzeitig zu sensibilisieren: Denn um Amokläufe vereiteln zu können, müssen potenzielle Täter/innen frühzeitig erkannt und ihre Motive entschlüsselt werden. Da
Staudamm typische Gefährdungen auf nüchterne Weise beschreibt, kann die Inszenierung Berührungsängste gegenüber dem Tabuthema nehmen. Der Film, der sich an den Erfurter Schüleramoklauf 2002 anlehnt und auf simple Erklärungsmuster verzichtet, bietet im Sozialkundeunterricht reichlich Anknüpfungspunkte für Fragen wie: Was sind mögliche Ursachen für einen Amoklauf? Welche psychologischen Voraussetzungen müssen für ein solches Verbrechen erfüllt sein? Lassen sich Amokläufe überhaupt verhindern? Wie können Überlebende ihre Traumatisierung verarbeiten? In den Fächern Kunst und Deutsch liegen zudem inhaltliche, dramaturgische und filmästhetische Vergleiche zu themenverwandten Filmen wie
Elephant oder
We Need To Talk About Kevin (Großbritannien 2011) von Lynne Ramsay nahe. Warum fasziniert das Thema "Amoklauf" offenkundig Filmemacher/innen immer wieder?
Autor/in: Reinhard Kleber, 28.01.2014
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