Hintergrund
Die Stereoskopie – Wie sie wurde, was sie ist
War er in den vergangenen Jahrzehnten ein Randphänomen und wurde zuletzt vor allem in Imax-Kinos gezeigt, kommt spätestens seit 2009 ein 3D-Film nach dem anderen in die Kinos. Doch 3D ist keine Erfindung des digitalen Zeitalters. Dreidimensionale Darstellungstechniken fanden bereits im 19. Jahrhundert vor allem in der Fotografie Anwendung, aber auch Zeichnungen wurden dreidimensional dargestellt. Der Physiker Charles Wheatstone stellte 1838 in einem Vortrag bei der Royal Society in London die These vor, mit der sich die Wissenschaft schon von Euclid bis Leonardo da Vinci beschäftigt hatte: Wir können räumlich sehen, weil wir zwei Augen besitzen. Um diese Behauptung endgültig zu beweisen, entwickelte er das Stereoskop eine Vorrichtung, mit der zunächst Zeichnungen – die Fotografie war noch nicht erfunden – und später Fotos dreidimensional wahrgenommen werden konnten.
Grundprinzipien des räumlichen Sehens
Da unsere Augen einen Abstand von circa sechs Zentimetern haben, sehen wir alle Dinge zweimal aus etwas unterschiedlichen Perspektiven. Das kann man sich augenscheinlich machen, indem man einen ausgestreckten Finger vor das Gesicht hält und dann abwechselnd das linke und rechte Auge verschließt. Das "Springen" des Fingers resultiert aus den verschiedenen Blickpunkten der Augen. Um einen räumlichen Eindruck zu vermitteln, nutzte Wheatstone dieses Phänomen und setzte Zeichnungen, die ein Objekt aus leicht versetzten Ansichten zeigten, so in das Stereoskop ein, dass bei gleichzeitigem Betrachten mit beiden Augen jedes von ihnen nur eines der Bilder sehen kann. Das Gehirn setzt diese beiden Bilder zusammen – ein räumlicher Eindruck entsteht.
Stereofotografie wird zum Massenphänomen
Mit der Entwicklung der Fotografie ab den 1840er-Jahren entstand auch die Stereo- oder 3D-Fotografie. Basierend auf zwei im Augenabstand platzierten Kameralinsen, stellte der schottische Wissenschaftler David Brewster 1851 bei der Great Exhibiton in London sein neues Stereoskop vor, das auch
Stereoskop-Box (li) und Kaiserpanorama (Montage, Quelle: Johannes Steurer, Arri Cine Technik)
Königin Viktoria begeisterte. War dieses Stereoskop noch eine hölzerne Box, in die man hineinsah, entwickelten Oliver Wendell Holmes und Joseph Bates dann in den 1860er-Jahren eine Apparatur, die man sich wie eine überdimensionierte Brille direkt vor die Augen hielt. Von 1870 bis 1920, in dem sogenannten goldenen Zeitalter der Stereoskopie, wurde sie millionenfach verwendet. Diese Art der Darstellung faszinierte die Menschen und für die Apparaturen wurden stereoskopische Bilderserien hergestellt. Höhepunkt dieser Entwicklung war das sogenannte Kaiserpanorama, bei dem 25 Personen gleichzeitig eine Serie von Bildern betrachten konnten, meist von exotischen Schauplätzen, Landschaften oder aktuellen Ereignissen, die teilweise nachgestellt wurden.
Projektion und 3D-Brillen
Das Stereoskop funktioniert nach dem Guckkastenprinzip, ein Verfahren, das für die Leinwandprojektion nicht geeignet ist. Um im Kino räumliches Sehen zu ermöglichen, müssen beide Bilder durch ein Filtersystem getrennt werden. Hier kommen die 3D-Brillen ins Spiel. 1891 wurde in Frankreich das erste Farb-Anaglyphensystem patentiert, das damals noch auf rot-grünen Farbfiltern basierte (inzwischen werden aufgrund der besseren Farbwiedergabe meist rot-cyane Filter verwendet). Die Bilder für das rechte und das linke Auge werden beim Farb-Anaglyphensystem unterschiedlich eingefärbt, zum Beispiel eine Seite rot, die andere grün, und so an die Leinwand projiziert. Die Farbfilter in den Brillen filtern diese Tönung heraus und sorgen gleichzeitig dafür, dass jedes Auge nur das Bild sieht, das es sehen soll. Anaglyphe Filter wurden überwiegend in der Frühzeit des Kinos eingesetzt, da sie sich besonders für schwarz-weiß-Filme eignen.
Prinzip der 3D-Projektion im Kino (L=Links, R=Rechts), Foto: Johannes Steurer, Arri Cine Technik
Heute trifft man im Kino im Wesentlichen auf drei verschiedene Systeme, was auch die unterschiedlichen Brillen erklärt, die man an der Kinokasse erhält: Am häufigsten werden Polfilter (Real D) verwendet, daneben gibt es ein modernes Farbfiltersystem (Dolby) und außerdem Shutterbrillen, bei denen in rapider Abfolge jeweils eine Brillenseite durch Flüssigkristalle verschlossen wird.
Bereits während des 3D-Booms in den 1950er-Jahren wurden die meisten Filme mit Polfiltern gezeigt. Ein Polarisationsfilter vor dem Objektiv des Filmprojektors macht sich die Welleneigenschaft des Lichts zu Nutze. Er separiert das Filmlicht in eine rechts- und eine linksdrehende Welle. Analog dazu lassen die Filter in der 3D-Brille dann nur die Lichtwellen für das "richtige" Auge durch, zum Beispiel die linksdrehenden Wellen nur für das linke Auge und entsprechend die rechtsdrehenden Wellen nur für das rechte Auge. Der Projektor wirft das Licht auf eine beschichte Silberleinwand, die das Licht in den Kinosaal reflektiert und dafür sorgt, dass seine Polarisation erhalten bleibt. Standen im Vorführraum früher zwei Projektoren nebeneinander, reicht heutzutage einer. Die neuen digitalen Geräte mit nur einem Projektionsstrahl spielen 72 statt 25 Bilder pro Sekunde für jedes Auge in schnellem Wechsel ab, so dass die Bilder kaum flackern und den 3D-Effekt stören könnten. Bei zwei Projektoren bestand zudem immer die Gefahr der Asynchronität.
3D-Effekte: Kameraabstand
Entscheidend für jede 3D-Aufnahme ist also, dass eine Szenerie mit zwei synchron arbeitenden Kameras aus leicht unterschiedlichem Winkel aufgenommen wird. Doch was geschieht, wenn man die beiden Kameras nicht im Augenabstand von sechs Zentimetern platziert und sie auch nicht parallel stellt, sondern zueinander neigt? Auf diesen Einstellungsmöglichkeiten beruhen Effekte, die typisch für 3D sind.
Coraline (Foto: Universal Pictures Germany)
Denn wenn der Kameraabstand, die sogenannte interokulare Distanz, vergrößert wird, wirken Objekte kleiner – als ob ein Riese auf unsere Welt schaut. Die Vergrößerung des Kameraabstandes hat aber zugleich zur Folge, dass der Raum tiefer wirkt. Ist der Kameraabstand jedoch geringer, wirken die Figuren größer. Um einen realistischen Eindruck ihrer nur 20 Zentimeter großen Puppen zu erhalten, wählten beispielsweise die Filmemacher des Stop-Motion-Films
Coraline (Henry Selick, USA 2009) einen Objektiv-Abstand von circa einem Zentimeter. Dadurch erscheinen
Oben (Foto: Walt Disney Motion Pictures Germany)
die Puppen größer, wie "echte" Figuren.
Für Filmemacher/innen wird die Veränderung des Kameraabstandes zudem zu einem zusätzlichen Stilmittel: Wird der Abstand verkleinert, dann wirken zwar die Figuren größer, der Filmraum wird aber flacher, die Entfernung einzelner Objekte erscheint geringer. Will man zum Beispiel erreichen, dass eine Filmfigur traurig wirkt, gibt man dem Bild entsprechend wenig Tiefe. Indem der Filmraum beengt wird, wirkt auch der äußere (und innere) Erlebnisraum der Figur eingeschränkt. Öffnet sich dann die Welt für diesen Charakter, kann ein erweiterter Kameraabstand zusätzliche Tiefe des Bildraums erzeugen und damit vermitteln, dass einer Figur neue Möglichkeiten offenstehen. Dieses Ausdrucksmittel nutzt beispielsweise der Animationsfilm
Oben (Up, Pete Docter, Bob Peterson, USA 2009), wenn der Protagonist Carl mit seinem Haus von der Erde abhebt und sich auf eine Reise begibt, auf der er endlich die Trauer um seine verstorbene Frau hinter sich lassen kann.
3D Effekte durch konvergierte Kameras
Ein weiterer häufig verwendeter Effekt besteht darin, dass sich scheinbar Teile des Bildes aus der Leinwand heraus in den Zuschauerraum bewegen. Dieser Effekt wird erreicht, indem zwei Kameras "konvergiert" werden, das bedeutet, sie werden schräg zueinander positioniert, so dass ihre Aufnahmeachsen sich kreuzen. Das Objekt, das sich im Schnittpunkt der beiden Achsen befindet, erscheint beim Betrachten dann genau auf der Leinwand. Objekte, die während der Aufnahmen im Bereich vor diesem Schnittpunkt liegen, scheinen sich später in den Zuschauerraum hinein zu bewegen.
Drachenzähmen leicht gemacht (Foto: Paramount Pictures Germany)
Das ursprünglich als Plastigram bezeichnete Verfahren wurde bereits in den 1920er-Jahren entwickelt. Die Plastigram-Filme kamen 1924 als erste 3D-Produktionen in den regulären Filmverleih. Auch heute noch bewirken auf das Publikum zufliegende Wurfgeschosse oder Drachen wie in
Drachenzähmen leicht gemacht (How To Train Your Dragon, Dean DeBlois, Chris Sanders, USA 2010) einen Überraschungsmoment und verstärken das Gefühl, Teil der Handlung zu sein. Durch die digitalen Möglichkeiten wird heute jedoch meist mit parallel gestellten Kameras gedreht. Erst in der Nachbearbeitung werden die Bilder von linker und rechter Kamera gegeneinander verschoben, so dass sie nicht mehr deckungsgleich auf der Leinwand erscheinen. Damit ist man flexibler und kann besser kontrollieren, welche Gegenstände wo im Raum erscheinen.
Verarbeitungsmechanismen und Bildsprache
Durch 3D erscheinen Gegenstände auf der Leinwand plastischer und das Bild liefert mehr Informationen, die unser Gehirn verarbeiten muss. Dies erfordert Anpassungen an die Erzählweise von Filmen, die bereits bei den äußerst zeitaufwändigen Dreharbeiten beginnen. Jede Szene muss exakt vorbereitet werden, jede Aufnahme wird genau vermessen und justiert. Improvisation ist kaum möglich. Sind die Einstellungen zu kurz, ist die Zeit zu gering, die unser Gehirn benötigt, um ein räumliches Bild aufzubauen. In actionreichen Szenen wird zugunsten höherer Schnittgeschwindigkeit daher häufig auf einen dreidimensionalen Bildeindruck verzichtet. Außerdem vermeiden es Filmemacher/innen, Unschärfen zur Blicklenkung zu verwenden, da dies zu Irritationen in der Wahrnehmung der Zuschauenden führt: In der Realität sehen wir jedes Bild dreidimensional und können zugleich unser Auge auf einzelne Bereiche fokussieren. Gerade Letzteres ist im 3D-Film nicht immer möglich. Das dreidimensionale Bild ist zwar plastischer, aber nicht zwangsläufig wirklichkeitsnaher als das zweidimensionale. Kurz gesagt: Das 3D-Kino hat seine eigene Ästhetik. Doch während die zweidimensionale Bildsprache sich über einen Zeitraum von über hundert Jahren entwickelte, blieb der dreidimensionale Film bislang eine Randerscheinung. Aber es ist anzunehmen, dass sich mit zunehmender Anzahl an 3D-Filmen auch hier Konventionen, besonders in Bezug auf Bildkomposition, Schnitte und Schärfe, herausbilden und – wenn sich 3D-Filme etablieren – auch die Sehgewohnheiten ändern werden.
Autor/in: Jesko Jockenhövel, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Medienwissenschaft der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf", 07.07.2010
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