Hintergrund
Chinas Weg in die Gegenwart
Die Anfänge des modernen China waren gekennzeichnet durch eine tiefgreifende Erschütterung des kulturellen Selbstverständnisses der Chinesen. Seit jeher hatte sich das "Reich der Mitte" nicht als eine Zivilisation unter vielen betrachtet, sondern als Mittelpunkt des gesamten Weltkreises mit einem Regenten an der Spitze, der sein Mandat – nach altchinesischer Auffassung – vom Himmel erhalten hatte .
Kolonialisierung Chinas
Diese Grundlage geriet ins Wanken, als im Jahre 1839 der erste "Opiumkrieg" zwischen Großbritannien und dem Reich der Mitte ausbrach. Vordergründig als Handelskrieg um die Öffnung chinesischer Häfen für westliche Importwaren – darunter Opium – geführt, begann damit in Wahrheit die Kolonialisierung Chinas durch die militärisch-technologisch überlegenen westlichen Großmächte. Franzosen, Russen, Deutsche und bald auch Japaner konkurrierten um Einflussgebiete. Die kaiserliche Mandschu-Regierung unter der Herrschaft der Kaiserinwitwe Cixi, welche die Regentschaft für den noch unmündigen Kindkaiser Pu Yi übernommen hatte, erwies sich als unfähig, diesen Herausforderungen zu begegnen. Auch Bauernaufstände wie die Taiping-Rebellion (1850-1864) und der Boxeraufstand des Jahres 1900 änderten nichts.
Erste Modernisierungsbestrebungen
Eine Militärrevolte im Herbst 1911 führte zur Gründung einer Republik China mit Dr. Sun Yat-sen als geistiger Leitfigur an der Spitze. Nach der offiziellen Abdankung des Kaiserhauses (1912) stellte sich heraus, dass die reale politische Macht in den Händen rivalisierender lokaler Militärmachthaber lag. Trotz der instabilen Situation gab es in einigen großen Städten Chinas Modernisierungsbestrebungen. Neben dem Handel entstand eine – meist von ausländischem Kapital kontrollierte – industrielle Produktion sowie eine Schicht industrieller Lohnarbeiter, deren politische und gewerkschaftliche Organisation die 1921 in Shanghai gegründete Kommunistische Partei Chinas übernahm.
"Weißer Terror" und "Langer Marsch"
Shanghai bildete auch das kulturelle Zentrum der Moderne: Dort lebten Chinas prominente Schriftsteller, die zur Entwicklung einer modernen chinesischen Schriftsprache beitrugen, entwickelten sich die Anfänge des chinesischen Films – und erlebte die KP Chinas eine ihrer größten Niederlagen. Im Jahre 1927 zerbrach ihr Bündnis mit der von Sun Yatsens Schwiegersohn Chiang Kai-Shek geführten Guomindang-Partei. Chiang Kai-Shek, der seine Regierung in Nanking gebildet hatte, zerschlug die kommunistische Basis in den chinesischen Städten fast vollständig mit Hilfe des "weißen Terrors". Nur in den unwegsamen ländlichen Bergregionen überlebten einige KP-Kommandeure, darunter auch Mao Zedong. Als sich der Belagerungsring der Guomindang-Armee um deren Stützpunkt in Jiangxi immer enger zuzog, durchbrachen sie 1934 in einer militärischen Verzweiflungsaktion die Blockade. Von den ursprünglich 80.000 kommunistischen Partisanen erreichten – nach 12.000 Kilometern Fußmarsch, dem "Langen Marsch" – rund 8000 im Herbst 1935 die im Nordwesten gelegene Provinz Shaanxi mit der Stadt Yenan, wo sie eine neue Räterepublik gründeten.
Taiwan und die VR China
Japan hatte unterdessen im Jahre 1932 die Mandschurei erobert und einen Satellitenstaat mit dem ehemals letzten Kaiser Chinas Pu Yi als Marionetten-Regenten etabliert. Ab 1937 rückten japanische Truppen in den Süden und Osten Chinas vor und nahmen die Hauptstadt Nanking ein. Nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten kam es zu einer – freilich kaum funktionierenden – Einheitsfront zwischen der Guomindang und der KP Chinas. Nach der Kapitulation Japans im Jahre 1945 und dem von 1947 bis 1949 währenden Bürgerkrieg zwischen den verfeindeten Parteien floh Chiang Kai-Shek mit dem Rest seiner Truppen auf die Insel Taiwan, wo eine "Republik China" entstand. Mao Zedong proklamierte am 1.10.1949 in Peking die neue Volksrepublik China. Agrar- oder Industrienation? Die 50er Jahre waren außenpolitisch geprägt von Chinas Kriegseintritt (1950/51) in den Koreakrieg und der Anlehnung an die Sowjetunion. Innenpolitisch betrieb die kommunistische Partei die Kollektivierung der Landwirtschaft und eine rigide Unterdrückungspolitik gegenüber den Intellektuellen ("Hundert Blumen Kampagne"). Der Umverteilung des Bodens an die so genannten "armen Bauern" (1951-56) schloss sich die Einrichtung von Volkskommunen an (1958). Massenkampagnen, wie der "Große Sprung nach vorn", der China innerhalb kurzer Zeit zur Industrienation machen sollte, endeten im wirtschaftlichen Debakel und in einer Hungersnot, die zwischen 1959 und 1962 etwa 20 Mio. Menschenleben forderte. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten verschärften sich noch, als sich 1960 der politische Bruch mit der Sowjetunion abzeichnete und die sowjetischen Technik-Experten gleichsam über Nacht das Land verließen.
Die Kulturrevolution
Machtkämpfe innerhalb der Parteiführung, die drohende Entmachtung Mao Zedongs und die Propaganda-Aktionen von dessen dritter Frau, Jiang Qing führten im Jahre 1966 zur Propagierung der "Großen Kulturrevolution" durch Mao Zedong: eine Art organisierter Aufruhr, dessen aufgeputschte jugendlich-fanatische Anhänger unter der Schüler- und Studentenschaft einen wahrhaft barbarischen Terror entfalteten. Er richtete sich sowohl gegen die etablierten Parteikader als auch gegen die Intellektuellen. Eine ganze Generation von Jugendlichen wurde aus den Schulen geholt und zu körperlicher Arbeit in ländliche Gebiete geschickt. Durch die ständigen Kampagnen der radikalen Wortführer drohte das Land im Chaos zu versinken. Erst nach 1969 beruhigte sich die Situation.
Ein Tor zum Westen
Erste vorsichtige Kontakte mit den Vereinigten Staaten (1972 besuchte US-Präsident Nixon China) deuteten auf eine zaghafte außenpolitische Öffnung Chinas hin. Erst nach dem Tode Mao Zedongs im Jahre 1976 jedoch ließ Maos Nachfolger Hua Guofeng die vier radikalen Führer der Kulturrevolution, darunter auch die Mao-Witwe Jiang Qing, verhaften. Der einst entmachtete Parteikader Deng Xiao Ping profilierte sich Ende 1978 als Chinas neuer Führer, der eine Liberalisierung und Privatisierung der Wirtschaft einleitete. Seit den 80er Jahren öffnet sich China in einem seit 1949 nicht gekannten Ausmaß westlichen Waren und Investitionen.
Freiheit, Gleichheit ...
In wirtschaftlicher Hinsicht gebärdet sich der von der KP Chinas geführte Staat liberal. Doch die Forderung seiner Bürger nach politischen Freiheiten ist nach wie vor lebensgefährlich, wie das "Tiananmen"-Massaker des Jahres 1989 zeigte, als chinesische Studenten sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing versammelten, um demokratische Strukturen zu fordern. Es sind jedoch nicht nur Menschenrechtsfragen, die der Regierung zu schaffen machen. Den außenpolitischen Erfolgen, wie etwa die Rückgabe Hongkongs durch Großbritannien an China im Jahre 1997, stehen soziale Probleme gegenüber, wie die massenhafte, illegale Zuwanderung von Wanderarbeitern, die aus den verarmten ländlichen Regionen in die wohlhabenden Städte flüchten. Das extreme wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen den Regionen Chinas ist zweifellos ein Faktor politischer Instabilität. Welche Entwicklungen sich daraus ergeben, ist noch nicht absehbar.
Autor/in: Dagmar Lorenz (Sinologin), 21.09.2006