Hintergrund
Erlöser von der Leinwand
Es waren selten die Religionsstifter oder ihre ersten Gewährsleute, die Bilder für den Umgang mit den spirituellen Grundbedürfnissen festgelegt haben . Sie sprachen zwar in "Gleichnissen". Doch ihre Aussagen mussten notwendigerweise offen bleiben für Deutungen. Schließlich ist keine Religion auf nachprüfbare Fakten gegründet. Erst später schufen ihre Anhänger aus den Vorstellungen der Volksreligiosität heraus Szenarien, in denen komplexe theologische Themen bildhaft verallgemeinert wurden. Jetzt entstanden die Gemälde von sinnlichen Paradiesen und fürchterlichen Höllen. Jetzt bekamen Geistwesen und meist auch die Religionsgründer selbst eine wiedererkennbare Gestalt.
The Sixth Sense (M. Night Shyamalan)
Moses, Mohammed und Jesus
An der Konstruktion religiöser Urbilder waren die jeweils aktuellen Medien beteiligt. Und diese Urbilder wurden ihrerseits wieder zum Stoff für Erzählungen, die nicht vordergründig religiös motiviert waren. Auch das Kino hat seit seinen Anfängen beide Rollen mitgespielt. In einer kaum noch überschaubaren Zahl von Jesus-Filmen hat es die Gestalt des christlichen Religionsstifters für das 20. Jahrhundert abgebildet – bis hin zu solch persönlichen Variationen wie Derek Jarmans The Garden oder Denys Arcands Jesus von Montreal. Auch die Legenden um andere Stifter wurden vom Film neu erzählt, jene um Moses in Cecil B. DeMilles Die zehn Gebote, jene um Mohammed in Mohammed – Der Gesandte Gottes von Moustapha Akkad und die um Gautama Buddha in Bernardo Bertoluccis Little Buddha.
Stigmata (Regie: Rupert Wainwrigth)
Kollektive Ängste
Das Kino begreift sich jedoch nicht als Medium der Predigt, sondern allenfalls der Erbauung. Vor allem ist es ein Medium, das immer wieder kollektive Ängste und Bedürfnisse aufnimmt, in Geschichten umformt und auf diese Weise den Geängstigten und Bedürftigen zur Anschauung bringt, damit sie ihre Emotionen bearbeiten können. Das ist genau die Aufgabe, die Aristoteles schon der antiken Tragödie zugeschrieben hatte. Betrachtet man die Filmstarts des Jahres 2000, so findet man hier eine erstaunliche Häufung von Geschichten, die ihre Stoffe aus christlicher Volksreligiosität genommen haben. Um einige Titel zu nennen: Die neunte Pforte, End of Days, The Sixth Sense, Stigmata, Sleepy Hollow, Dogma, Die Prophezeiung.
Endzeitvisionen
In diesen Filmen ging es um Endkämpfe mit dem Teufel, der seine Herrschaft auf Erden errichten will, oder um Begegnungen mit dem Zwischenreich der Geister. Das sind Stoffe, die bereits in anderen medialen Erzählungen vorliegen, etwa in mittelalterlichen Antichrist-Dramen oder in viktorianischen Spukgeschichten. Das Kino passt sie dem Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert an. Mag sein, dass die teuflischen Endzeitvisionen in Zusammenhang mit dem Medienrummel um die Jahrtausendwende und ihre irrationalen Ängste stehen. Grundsätzlicher aber scheint das Kino auf die Erfahrungen seines Publikums mit einer zunehmenden "Entwirklichung" ihrer Welt zu reagieren.
Szene aus "Matrix"
Ein Gefühl von Realitätsverlust
Selbst jene, die sich mit großer spielerischer Selbstverständlichkeit der neuen Medien wie Internet oder Handy bedienen, erleben im Umgang damit einen Verlust von greifbarer Realität. Alles wird flüchtig, ungestalt, ortlos. Genau das sind die Eigenschaften, die religiöse Erzählungen seit Jahrhunderten dem Reich der Geister zuschreiben. Es ist ein Reich der Ungewissheit – und Ungewissheit ist bei den meisten Menschen ein Auslöser von Angst. Daher bewohnen bedrohliche Dämonen die irrealen Zonen, die am Ende des Films fast immer besiegt und überwunden sind.
Erlösung ins Elend
Die Helden der Filme werden so zu Erlöserfiguren, die dem Publikum vor der vertrauten Kulisse religiöser Motive (im amerikanischen Hollywoodfilm selbstverständlich christlicher Herkunft) die Ängste vor der eigenen Wirklichkeit nehmen sollen. Manchmal, wie in Matrix, auch einem Erlöser-Film, wird die Wirklichkeit sogar ganz konkret als Simulation angesprochen. Genau bedacht, führt in Matrix die Erlösung aus der Scheinwelt allerdings nur in den schrecklichen Zustand der Gefangenschaft. Vielleicht eine subtile Kritik an der großen Bereitschaft der Zuschauer, sich im Kino immer wieder erlösen zu lassen.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 01.01.2001