Berlinale 2002
Der Passierschein
Neue Perspektiven
Mit seinem ersten Festival kann der neue Berlinaleleiter Dieter Kosslick und mit ihm das (Fach-)Publikum wohl insgesamt zufrieden sein. Nach vielen Jahren endlich wieder einmal ein Wettbewerb ganz im Zeichen des politischen Films, der zwar nicht nur aus Glanzlichtern bestand, aber wenigstens keine Langeweile aufkommen ließ und genügend sehenswerte und kontrovers diskutierte Beiträge enthielt. Kosslick ist es gelungen, eine verhältnismäßig große Bandbreite an filmästhetischen Formen und Themen in den Wettbewerb aufzunehmen und das war auch bei den drei ebenfalls sehr unterschiedlichen deutschen Beiträgen von Dominik Graf, Andreas Dresen und Christopher Roth zu spüren. Insgesamt ist dem Festival die von Kosslick erwartete Aufwertung des deutschen Films gut bekommen, selbst wenn der regelrechte Run auf die neue Sektion "Perspektiven" diesmal noch zu organisatorischen Engpässen führt und die Arbeit der Journalisten behinderte. Gespannt sein darf man schließlich auch auf die Weiterentwicklung der Sektionen "Panorama" und "Forum". In den vergangenen Jahren hatte das Panorama oft die besseren Filme als der Wettbewerb, diesmal musste es wohl für den Wettbewerb "bluten" und das eigenständigere Forum läuft "Gefahr" (?) sich immer mehr zum Abspielort von Videoproduktionen zu entwickeln.
Taking Sides - Der Fall Furtwängler
Künstler im Nationalsozialismus
Gleich mehrere Wettbewerbsfilme griffen das Thema Nationalsozialismus auf, was auch in einer restaurierten Fassung von Chaplins
Der große Diktator als Abschlussfilm seinen Niederschlag fand. Bertrand Tavernier setzte in
Der Passierschein den französischen Filmemachern zurzeit der deutschen Okkupation ein Denkmal, die sich damals entscheiden mussten, ob sie weiterarbeiten wollten, d. h. mit den Deutschen kooperierten, verdeckten Widerstand leisteten oder in den Untergrund gingen. Ein schwieriger Balanceakt voller tragikomischer Züge und aberwitziger Situationen für diejenigen, die weiter in ihrem Beruf arbeiteten. Tavernier geht sehr differenziert mit dieser Zeit um. Er führt seine guten Darsteller gekonnt auch durch manche Längen des fast dreistündigen Films. – Um die Haltung der Kunst und des Künstlers in einer Diktatur geht es auch in Istvan Szábos außer Konkurrenz präsentiertem Film
Taking Sides - Der Fall Furtwängler (siehe Kinofenster 3-02). Gegen den von den Nazis hochgeschätzten, jedoch weitgehend integer gebliebenen Dirigenten wird nach dem Krieg von amerikanischer Seite ein nicht immer faires Ermittlungsverfahren eingeleitet, um an ihm ein Exempel gegen den "Ungeist" der Deutschen zu setzen. Beiden Filmen gemeinsam ist, dass sie nicht mit pauschalen Verurteilungen oder Entschuldigungen arbeiten, sondern die grundsätzliche Problematik künstlerischer Betätigung unter totalitären Regimes aufzeigen und damit auch Gegenwartsbezüge ermöglichen.
Nationalsozialismus – Begegnung mit der Macht
Bei Constantin Costa-Gavras' ehrenwerter Verfilmung
Der Stellvertreter (Amen.) von Rolf Hochhuths umstrittenem Tatsachenroman "Der Stellvertreter" dagegen hat man das Gefühl, einen zwar solide gemachten Film zu sehen, der von seiner Form her aber ein oder zwei Jahrzehnte zu spät kommt und einer jüngeren Generation nicht viel Neues zu bieten hat im Sinne eines besseren Verständnisses jener Zeit. Selbst die eigentlich im Mittelpunkt stehende, unselige Rolle des Papstes im Holocaust wird nur sehr schlaglichtartig beleuchtet. Sarkastische SS-Offiziere und typisch deutsche Familienfeiern mit blondschöpfigen Kindern reproduzieren ebenfalls nur altbekannte Klischees, selbst wenn einer der Offiziere hier ein Doppelspiel betreibt, auf der einen Seite das Gas für die Massenvernichtung der Juden liefert, gleichzeitig aber mit allen Mitteln versucht, diesen Völkermord mit Hilfe der Kirche zu ver- oder wenigstens zu behindern. – Weitaus zeitgemäßer und spannender wirkte dagegen der mit dem Panorama-Publikumspreis (!) ausgezeichnete Dokumentarfilm
Im toten Winkel - Hitlers Sekretärin von André Heller und Othmar Schmiderer über die inzwischen verstorbene Traudl Junge, Hitlers Privatsekretärin von 1942 bis zu seinem Tod. Ein einfacher Interviewfilm, der ausschließlich aus den direkt in die Kamera erzählten Erinnerungen von Frau Junge besteht, sogar die Fragen der Filmemacher wurden ausgeblendet, was manchmal etwas schade ist. Wie aus der naiven Bewunderin Hitlers eine wütende Gegnerin des Nationalsozialismus wurde, lässt sich für den Einzelnen viel konkreter nachvollziehen als relativ pauschale Aussagen bei Hochhuth/Costa-Gavras, für das Schicksal der Juden hätte sich damals fast niemand wirklich interessiert.
Baader
Annäherungen an die 70er Jahre
Ein zweites wichtiges Thema auf der Berlinale war die Beschäftigung vieler Filmemacher mit den 70er Jahren. Paul Greengrass rekonstruiert in seinem dokumentarischen Spielfilm
Bloody Sunday minutiös genau die Ereignisse vom 30. Januar 1972 in der nordirischen Stadt Derry, als 13 Menschen bei einem unbewaffneten Protestmarsch für Menschenrechte im Kugelhagel britischer Militärs starben, was den bewaffneten Bürgerkrieg in Nordirland zur Folge hatte. Zentrale Identifikationsfigur ist der protestantische Bürgerrechtsaktivist Ivan Cooper, der sich die Sache der Katholiken zu eigen gemacht hatte und eine friedliche Koexistenz anstrebte, der aber die von britischer Seite angestrebte Vergeltungsmaßnahme und die Eskalation der Gewalt nicht mehr verhindern konnte. Durchgängig mit Handkamera gedreht, sieht sich der Zuschauer ganz unmittelbar in die damaligen Ereignisse hineinkatapultiert. Das wirkt absolut glaubwürdig und authentisch, gibt andererseits wenig Spielraum für sinnvolle Tempowechsel und dramatische Verdichtungen. – Ganz anders nähert sich Christopher Roth in
Baader einem historischen Thema und sorgte für heftige Diskussionen. Roth vermittelt den Anschein von Authentizität, indem er z. B. Spielhandlungen um den Anführer der Baader-Meinhof-Gruppe ständig mit Archiv- und Fernsehmaterial jener Zeit koppelt, sich ansonsten aber wenig um "realitätsnahe" Rekonstruktion kümmert. Das wird erst zum Schluss hin deutlich gemacht, als "Filmfiesling" und Obermacho Baader im Kugelhagel der Polizei stirbt, was historisch so ganz offensichtlich falsch ist. Geschichte und historische Figuren als reiner Selbstbedienungsladen für die Konstruktion neuer Mythen für eine Kinogeneration, für die sich das diffizile Verhältnis zwischen Wahrheit und Fiktion nur noch im Unterhaltungswert ausdrückt? Immerhin muss man Roth lassen, dass sein Film zu lebhaften Debatten führte und das ist nicht das Schlechteste, was einem politischen Film widerfahren kann.
Monster's Ball
Monster-Welten
Amerikanische Filme zum Thema Todesstrafe waren auch schon früher im Wettbewerb vertreten. Das Besondere an
Monster's Ball von Marc Forster ist, dass er nicht nur erneut die Fragwürdigkeit und Unmenschlichkeit einer staatlichen Tötungsmaschinerie und das soziale Zweiklassensystem aufzeigt, das bei gleichem Straftatbestand wesentlich mehr Schwarze in amerikanische Todestrakts verbannt, als Weiße. Forsters ganzes Augenmerk gilt vielmehr einer Familie von weißen Strafvollzugsbeamten, die bereits in der dritten Generation ihre "staatsbürgerliche Pflicht" erfüllt, um die Urteile zu vollstrecken. Der ihnen eigene Rassismus und Hass hat sich in dieser illustren Familie vom Vater auf den Sohn Hank übertragen und treibt den Enkel unmittelbar nach einer Exekution in den Selbstmord. Hank quittiert daraufhin den Dienst. Die Bekanntschaft mit und Liebe zu einer dunkelhäutigen Frau bringt ihm zum Nachdenken über sein bisheriges Leben und seine Beziehung zum Vater. Doch dann stellt sich heraus, dass sie die Ehefrau des letzten von ihm exekutierten Schwarzen ist und damit gerät der Film zur eindrucksvollen Versuchsanordnung, ob und wie sich Hass und Intoleranz auf ganz privater Ebene überwinden lassen.
Der Grenzschützer
Chaos
Migranten und Grenzgänger
Ein dritter großer Themenbereich, der vor allem das Panorama prägte, sind Migranten und Grenzgänger, beispielsweise Amerika so Beautiful über Iraner in den USA oder Der Engel aus Teer über Algerier in Kanada. Herausgegriffen seien an dieser Stelle jedoch zwei andere Filme, die auch formal besonderes Interesse verdienen. Die slowenische Filmemacherin Maja Weiss erzählt in Varuh Meje/Der Grenzschützer die Geschichte dreier junger unabhängiger Frauen aus der Stadt, die in den Sommerferien eine Kanufahrt auf dem Grenzfluss zwischen Slowenien und Kroatien unternehmen. Die Reise entwickelt sich schnell zum Horrortrip, denn sie werden von einem national-reaktionären Politiker und seinen (männlichen) Anhängern verfolgt. Er möchte sein Land mit allen Mitteln vor liberalen Einflüssen beschützen und die Freiheit der Frauen mit ihren eigenen Moralvorstellungen ist ihm ein Dorn im Auge. Bis zum Schluss bleibt offen, was die drei Studentinnen wirklich erlebt haben und was nur in ihren Albträumen existiert. Auf diese parabelhafte Weise lässt sich der Film leicht auf jede Form von "Talibanisierung" der Geschlechterbeziehungen übertragen. Coline Serreau erzählt in Chaos die tragikomische Leidensgeschichte der jungen Algerierin Malika, die von ihrem Vater ins Ausland zwangsverheiratet wird und in Frankreich als drogenabhängig gemachte Prostituierte für einen Zuhälterring arbeiten muss. Als sie mit einer größeren Menge Geldes fliehen möchte, wird sie von der Bande brutal zusammengeschlagen. Ein gutsituiertes französisches Ehepaar, das in klassischer Rollenverteilung nebeneinander herlebt, bekommt das mit, doch der Mann weigert sich zu helfen. Die Frau bekommt später Gewissensbisse, spürt das Opfer im Krankenhaus auf, kümmert sich um Malika, vernachlässigt dafür ihre selbstsüchtige Familie und ist schließlich bereit, gemeinsam mit ihrer neuen Freundin den Kampf gegen die Zuhälter aufzunehmen. Das könnte ein zweitklassiger Krimi werden, doch Serreau macht aus dem sozialdramatischen Stoff eine ansprechende Komödie voller skurriler Einfälle, gibt das gedankenlose bis verbrecherische Verhalten der männlichen Hauptfiguren des Film der Lächerlichkeit preis und führt sie ihrer gerechten Strafe zu. Der etwas andere Zugang an ein brisantes Thema.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006