Hintergrund
Leistungsgesellschaft
Szene aus dem Film "Elling"
Die moderne Industriegesellschaft ist durch Wertewandel, Auflösung der Familien- und Ehetradition, Konkurrenzkampf und eine weit fortgeschrittene Individualisierung gekennzeichnet. Das traditionelle Modell der Kleinfamilie, der festgeschriebenen Geschlechterrollen, der stabilen sozialen Beziehungen und Sicherheiten ist brüchig geworden. Hinter der Fassade des Wohlstands ist eine neue Zerbrechlichkeit sozialer Lagen und Biografien entstanden. Die moderne Gesellschaft steht für Freiheit, Egoismus, Selbstverwirklichung, Emanzipation, Risiko. Das Selbst ist der Mittelpunkt, einziges Zentrum, Ursprung und Ziel. Es geht um Selbstbegegnung, Selbstbehauptung, Selbsterweiterung, Selbstverwirklichung. Um dieses Selbst noch stützen und nähren zu können, hat sich ein vielfältiges Angebot an Therapiemöglichkeiten entwickelt.
Single-Dasein
Basis dieser Entwicklung sind die veränderten ökonomischen Bedingungen in den gegenwärtigen Industriestaaten. Der gewachsene gesellschaftliche Wohlstand hat ein Leben außerhalb der Ehe und Familie für den Einzelnen erst möglich gemacht. Von 1970 bis Anfang der 90er Jahre verdoppelte sich die Zahl der Haushalte, die nur von einer Person geführt werden, von fünf auf knapp zehn Millionen. Nach neuesten Erhebungen ist sie auf etwa 16 Millionen gestiegen.
Lebensläufe als Chaos
Zwar lebt der Einzelne heute mit größeren Freiheiten, gleichzeitig aber auch gefährdeter. Er ist gezwungen, über die eigene Identität, Religion, familiäre Situation und Elternschaft, über soziale Bindungen innerhalb des gesellschaftlichen Rahmens zu entscheiden. Die Normalbiografie, die sowohl innerhalb der Familie als auch am Arbeitsplatz eine stabile Situation beschrieb, löst sich auf. Die Lebensverläufe verwandeln sich vielfach in Bastel-, Risiko- oder im schlimmsten Falle zu "Bruchbiografien".
Unsicherheit und Überforderung
Wenn sich Lebensläufe entscheidend wandeln, ändert sich auch das Verhalten der Menschen, die soziale Beziehungsfähigkeit, das Potenzial von Ängsten und Sicherheiten. Der Einzelne hat alle Freiheiten, aber auch die alleinige Verantwortung für sein Leben. Die Freiheit, die eigenen, ganz individuellen Lebensumstände selbst wählen zu können, ist für viele eher bedrohlich als chancenreich. Sie müssen mit ihren eigenen Entscheidungen die existenzielle Unsicherheit ausgleichen, der sie sich ausgesetzt fühlen. "Der moderne Kapitalismus propagiert, dass jedermann mehr wagen soll. Jeder möge ein Unternehmer seiner Arbeitskraft sein. Unsicherheit wird in dieser Rhetorik als etwas Positives verkauft. Aber tatsächlich erleben die Leute etwas anderes: Sie empfinden den Zwang, ständig Risiken einzugehen, als deprimierend." (Richard Sennett: Der charakterlose Kapitalismus. Interview in DIE ZEIT Nr. 49, 28.11.98) Der Zustand der Unsicherheit treibt die Menschen umher. Von Beziehung zu Beziehung, Therapie zu Therapie, Urlaubsort zu Urlaubsort, von Job zu Job, zur Umschulung, zum Fasten, zum Joggen. "Besessen von dem Ziel der Selbsterfüllung reißen sie sich selbst aus der Erde heraus, um nachzusehen, ob ihre eigenen Wurzeln auch wirklich gesund sind." (Ulrich Beck: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996).
Gesellschaftliche Isolation
Je rascher und weitreichender der gesellschaftliche Wandel die Grundlagen des Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens verändert, desto eher fühlen sich Menschen überfordert und desto eher greift die Angst vor der Freiheit um sich. Der Anspruch und Zwang der Selbstverwirklichung, die persönlichen Freiheiten und Rechte, aber auch die ökonomischen Unsicherheiten bringen immer mehr Menschen in Widerspruch mit den allgemeinen gesellschaftlichen Anforderungen und Einstellungen. Die Verlierer der modernen Industrie- und Leistungsgesellschaft sind Kranke und Behinderte, Arbeits- und Obdachlose. Große, wachsende Bevölkerungskreise werden gesellschaftlich isoliert und von den Existenzvoraussetzungen und Sicherungsnetzen der Gesellschaft ausgeschlossen.
Szene aus dem Film "Elling"
Engagement für den Anderen
Dem Verlust an gesellschaftlicher Solidarität stehen auf der anderen Seite vielfältige Formen selbstorganisierten Engagements für andere gegenüber. Dieses freiwillige Engagement reicht von Aktivitäten für Freunde und Verwandte, Hilfeleistungen für notleidende Unbekannte bis hin zum politischen Engagement in Initiativen und Projekten. Für drei Viertel der amerikanischen Bevölkerung nehmen Solidarität, Hilfsbereitschaft und Gemeinwohlorientierung den gleichen prominenten Rang ein wie Selbstverwirklichung, beruflicher Erfolg und die Ausweitung der persönlichen Freiheitsräume. Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung
und die Sorge für andere scheinen sich nicht auszuschließen. Zudem zeigen Untersuchungen, dass mit der neuen Freiheit die Toleranz gegenüber andersartigen Menschen und gesellschaftlichen Randgruppen stetig angestiegen ist, seien es nun Ausländer, Homosexuelle, Behinderte oder sozial Benachteiligte.
"Wir alle kämpfen auf verschiedenen Ebenen ständig damit, eigene Grenzen zu überschreiten und innere Hürden zu überwinden." (Petter Naess, Regisseur des Films
Elling)
Autor/in: Hanns-Jörg Sippel (punctum, Bonn), 21.09.2006