Hintergrund
Chihiros Freunde – Kinder und Jugendliche in Japan
Chihiro, die Figur des zehnjährigen Mädchens, das im japanischen Anime-Film
Chihiros Reise ins Zauberland Eltern, Freunde und ihre Umgebung von einem bösen Zauberbann erlöst, ist kein genuin "japanischer Rollencharakter". Zu offensichtlich sind die Anleihen an westliche Populärmythen, an altbekannte Märchenstoffe ebenso wie an antike Mythen. Erinnert die Geschichte von der Verwandlung der Eltern nicht verblüffend an jene Episode in Homers Odyssee, in der die Reisegefährten des Odysseus von der Zauberin Kirke – ebenfalls beim Essen – in Schweine verwandelt werden? Ein wenig von der legendären List des Odysseus scheint allemal im tapferen Mädchen Chihiro zu stecken. Dennoch ist der überwältigende Erfolg eines solchen Films beim japanischen Publikum kein Zufall: Offenbar funktioniert die Rolle der kleinen Chihiro als Identifikationsfigur – und es steht zu vermuten, dass sie bei manchem japanischen Schulmädchen auch als Sehnsuchtsfigur dient. Schließlich gelingt der cleveren Chihiro etwas, was japanischen Kindern und Jugendlichen wohl eher schwerfallen dürfte: einer übermächtigen Umwelt gewisse Zugeständnisse abzuringen, wenn es sich darum dreht, die eigene bzw. die familiäre Situation insgesamt zu beeinflussen.
Der japanische Bildungsanspruch im Vergleich
Über die Situation von Kindern und Jugendlichen in Japan wurde in den vergangenen Jahren auch hierzulande wiederholt berichtet. Im Mittelpunkt des Interesses steht vor allem die japanische Schulbildung – spätestens nach Erscheinen der internationalen "Pisa"-Studie der OECD, in der die Leistungen der japanischen Schüler einen der vorderen Ranking-Plätze belegen. In einem Interview mit der elektronischen Ausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" betonte der Japan- und Bildungsexperte Florian Coulmas, warum dies seiner Ansicht nach so ist: In dem nach amerikanischem Vorbild aufgebauten Bildungssystem (sechs Jahre Grundschule, drei Mittelschule, drei Oberschule und vier Jahre Universität) herrschten andere Prioritäten. Bildung stelle einen Wert an sich dar, zudem sei man in Japan davon überzeugt, dass sich Wissen im späteren Leben einmal auszahle. Der Schule werde in Japan eine gesellschaftsformende und nicht nur stoffvermittelnde Aufgabe zugewiesen: Sozialtraining und Charaktertraining stehe an erster Stelle. Wichtig dabei sei die Disziplinierung der Schüler in kleinen Gruppen.
Hoher Bildungsaufwand
Während Coulmas diese Erziehung zur Sozialtauglichkeit als "vollkommen frei" beschreibt, verweisen andere westliche – und teilweise auch japanische Beobachter – auf die rigiden Seiten dieses Systems. Japanische Eltern opfern sehr viel Geld und Mühe für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder, denn nur der Besuch einer "guten" Schule und das Studium an einer angesehenen Universität eröffnen die Chance auf eine spätere berufliche Karriere etwa in einem der großen prestigeträchtigen Unternehmen – und damit die Möglichkeit, auch für die eigene Familie einmal gut sorgen zu können. Da auch in Japan in den vergangenen Jahren die Arbeitslosigkeit zugenommen hat und der lebenslange Arbeitsplatz auch in Großfirmen keine Selbstverständlichkeit mehr ist, dürfte der Wunsch, den eigenen Kindern die Chance auf einen festen Arbeitsplatz durch den Besuch renommierter Bildungsinstitute zu eröffnen, eher noch stärker geworden sein.
Leistungsanspruch von Kindesbeinen an
Das Karrierestreben beginnt für japanische Kinder bereits im Kleinkindalter. Es gilt, den Eingangstest für den Kindergarten zu bestehen und damit die Chancen zu erhöhen, Aufnahme in eine der "besseren" Grundschulen zu finden. Hier ist insbesondere das nimmermüde Engagement der Mütter gefragt: Während die Väter tagsüber meist arbeiten, sich um die eigene Karriere in der Firma sorgen, sind es die Mütter, die ihre gesamte Zeit der Erziehung der Kinder widmen, sich um die richtige Schule kümmern und alle praktischen Dinge des Alltags für ihre Kinder regeln. Durch konsequenten Drill sorgen sie dafür, dass bereits ihre Kleinkinder lesen können, Klavier spielen oder Englisch sprechen und damit fit gemacht werden für die spätere "Examenshölle", die jeder durchschreiten muss, der an Japans begehrtesten Schulen Aufnahme finden will. Private kostspielige Nachhilfeinstitute, so genannte "Jukus", pauken mit den Schüler/innen nach der Ganztagsschule zusätzlich noch Lernstoff, um ihren Zöglingen den Weg zu den renommiertesten Universitäten zu ebnen. Für zweckfreies Spielen und Lesen bleibt keine Zeit mehr – und auch die Herausbildung persönlicher Individualität ist in der auf reibungsloser sozialer Einordnung bedachten japanischen Gesellschaft nicht erwünscht.
Unterdrückung von Kreativität und Individualität
ZDF-Korrespondent Thomas Euting zitiert in einer Reportage über den Bildungsdrill in Japan den japanischen Verhaltensforscher Hideo Obara, der die Erziehung japanischer Kinder mit der Dressur eines Schoßhündchens vergleicht: Schon die Kindergärten zielten nicht darauf ab, Eigenständigkeit und Kreativität zu fördern, sondern menschliche Roboter heranzuzüchten. Zum Lernstress gesellt sich dann noch der in der japanischen Gesellschaft verankerte Gruppendruck: Selbst scheinbar "alternative" Jugendkulturen (Punks) organisieren sich vor allem diszipliniert als Gruppe, nicht als Ansammlung unangepasster Individuen. So mancher Jugendliche zerbricht an dieser "Zwangsjackengesellschaft" (Masao Miyamoto), Schülerselbstmorde sind in den japanischen Medien vieldiskutierte Phänomene. Es ist bezeichnend, dass seit einigen Jahren selbst der eine oder andere prominente Vertreter der japanischen Wirtschaft Skepsis gegenüber dieser Unterdrückung von Individualität anmeldet. So sieht der renommierte Wirtschafts- und Politikberater Taichi Sakaiya in der Erziehung zur sozialen Einordnung um jeden Preis eine der Ursachen für die Krise der japanischen Wirtschaft und fordert auf internationalen Kongressen schon seit Jahren eine Revision der Erziehungsziele. Ob die realen Chihiros in den japanischen Schulen von heute diese Revision noch erleben werden, ist jedoch fraglich.
Quellen (Auswahl):
Masao Miyamoto: Straitjacket Society. An Insider's Irreverent View Of Buerocratic Japan. Kodansha 1995 Thomas Euting: Versagen verboten. Reportage.
www.infojapan.de/kultur/kind.htm Petra Plate, Friederike Bosse: Informationen zur politischen Bildung, Heft 255. Japan. Gesellschaft und Kultur. "Japanische Kinder lernen lieber". Interview mit Florian Coulmas. FAZ-Net, 18.12.2001
www.faz.net Dagmar Lorenz: "Da muss etwas passieren". Wirtschaftsexperte Sakaiya Taichi fordert eine Reform der japanischen Gesellschaft.
www.morgenwelt.de/kultur/
Autor/in: Dagmar Lorenz (Sinologin), 01.06.2003