Filmfest München 2003
Stupeur et tremblements
Die 21. Ausgabe des Filmfest München, mit dem der langjährige Festivalleiter Eberhard Hauff seinen Abschied nahm, stand unter dem von Agnès Varda formulierten Motto des Kinos als "Träume mit offenen Augen", unabhängig davon, ob es uns mit Bildern unserer Fantasie speist oder gnadenlos mit Bildern der Wirklichkeit konfrontiert. Das aus zahlreichen Sektionen bestehende Programm war wieder so umfangreich, dass man sich sehr genau aussuchen konnte und musste, welche Art von "Träumen" man bevorzugte und wo man sie zu finden hoffte.
Fremde Kulturen am Beispiel Japan
Wenn Traditionen und die kommunikativen Zeichensysteme zweier Kulturen zu verschieden sind, kann eine echte Verständigung im Sinnes eines offenen Gedankenaustauschs nur schwer gelingen, selbst wenn es am guten Willen nicht fehlt. Der französische Filmemacher Alain Corneau verdeutlicht das in seinem bemerkenswerten Film
Stupeur et tremblements/
Furcht und Angst nach der autobiografischen Romanvorlage einer jungen Belgierin, die ihre Kindheit in Japan verbrachte und sich seitdem sehnt, wieder in diesem Land leben zu können. Sie findet als junge Erwachsene tatsächlich eine Stelle als Übersetzerin in einem großen japanischen Wirtschaftsunternehmen, wird dort aber nicht ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt. Da sie unbewusst gegen herrschende Gesetze verstößt, sinkt sie in der Hierarchie der Firma immer tiefer und provoziert selbst als Toilettenfrau noch schwerwiegende kulturelle Konflikte. Auch wenn die Beweggründe der Frau, die solches über sich er gehen lässt, nicht immer nachvollziehbar bleiben, gelingt es Corneau mit einer Mischung aus teilnehmendem Humor und ironischer Distanz und dank der Hauptdarstellerin Sylvie Testud (
Jenseits der Stille), kulturelle Unvereinbarkeiten auf den Punkt zu bringen und leichtfertig als selbstverständlich erachtete, westeuropäische Denkmuster zu hinterfragen, ohne dabei eine der Kulturen zu denunzieren. Nicht minder enigmatisch wirkte das in München in Welturaufführung präsentierte Drama
Catharsis von Katsumi Sakaguchi. Es setzt eine gewisse Kenntnis japanischer Symbole und Metaphern sowie ein geduldiges Publikum voraus, das lange intensive Kameraeinstellungen im Halbdunkel ohne ein gesprochenes Wort oder wesentliche Handlungsmomente verkraften und mit entsprechendem Symbolgehalt füllen kann. Vor dem Hintergrund eines authentischen Falles, in dem ein 14-jähriger Junge aus Kobe mehrere Mädchen ermordet hatte und nach drei Jahren Jugendarrest wieder freigelassen wurde, geht Sakaguchi in seinem Film der Frage nach Schuld und Sühne nach. Er zeigt, wie die Tat auch die Familie des Täters zerstört, die nun in einer halb verfallenen Hütte Zuflucht auf einer abgelegenen Insel sucht. Die zunächst ihrem Schicksal ohnmächtig ergebenen Eltern sehen schließlich den einzigen Ausweg im Freitod, da ihnen die Gesellschaft eine Reintegration nicht gestattet.
Cavale
Kroatische Impressionen
Unter dem Motto "Links und rechts der Brücke" zeigte das Filmfest München eine Reihe von neuen Filmen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien. Den beiden Beiträgen aus Kroatien, Winter in Rio von Davor Zmegac und Feine tote Mädchen von Dalibor Matanic ist eine eher pessimistische Grundstimmung gemeinsam, die von Armut und Intoleranz geprägt ist. Beide Filme handeln von Menschen auf der Schattenseite des Lebens. Im Mittelpunkt von Zmegacs Werk stehen zwei Obdachlose in einem Vorort von Zagreb. Der eine von ihnen bekommt nach zwölf Jahren plötzlich Besuch von seiner Tochter, die mit der Mutter in Deutschland lebte. Um ihr ein besseres Leben vorzugaukeln, gibt er die Wohnung seines Freundes als die seine aus, doch der ist in kriminelle Machenschaften verwickelt, die auch die kleine Familienidylle nicht unberührt lassen. – Der Film von Matanic erinnert in Motiven und Machart etwas an den Programmkinohit Delicatessen von Jeunet/Caro, nur dass es in diesem Fall kein Mann, sondern zwei lesbische jungen Frauen sind, die in ein von illustren Bewohnern bevölkertes Haus ziehen. Sie werden gleich als Projektionsfläche eigener Unzulänglichkeiten und Begehrlichkeiten missbraucht, aber erst, als ihre sexuelle Neigung offenkundig wird, wenden sich einige Bewohner, die man nur noch als Monster bezeichnen kann, offen gegen die beiden. In dem bis zur Karikatur überzeichneten Film, der modellhaft die Entstehung von Intoleranz, Neid und Hass aufzeigt und ein überraschendes Ende bietet, bleiben die beiden Frauen die einzig wahrhaft Liebenden.
Regisseur Robert Kéchichian bei der Preisvergabe in München
Alte und neue Revolutionäre
Großes, auch politisch engagiertes Kino kam aus Frankreich. Cavale von Lucas Belvaux – entstanden als Teil einer am Stück abgedrehten Trilogie mit unterschiedlichen Genres und Themen, aber denselben Schauspielern – handelt von einem Terroristen, der nach 15-jähriger Haft aus dem Gefängnis ausbricht. Er sucht ehemalige Verbündete auf, rächt sich an damaligen Verrätern und möchte dort weitermachen, wo er vor seiner Verhaftung aufgehört hatte. Ständig von der im Hintergrund agierenden Polizei gejagt, merkt er zu spät, dass Waffen- und Geldverstecke zwar noch am rechten Platz sind, aber die Welt um ihn herum sich verändert hat und die alten Kampfparolen nur noch leere Phrasen sind. Belvaux zeigt diesen tragischen Helden als Vollprofi, dem man mit Sympathie bei der Arbeit zuschaut, der aber unweigerlich zum Scheitern verurteilt ist und am Ende in die Bedeutungslosigkeit entschwindet. – Der französische Kriminalfilm Aram von Robert Kéchichian verbindet geschickt das persönliche Drama einer armenischen Emigrantenfamilie in Paris mit der Geschichte armenischer und kurdischer Untergrundkämpfer, die einen Waffendeal planen und in Frankreich von einer rechtsextremen türkischen Organisation verraten und aufgerieben werden. Nicht ganz ohne Hilfe des französischen Geheimdienstes gelingt es dem Armenier Aram als einzigem Überlebenden der verratenen Aktion, den Tod seiner Freunde zu rächen, aber er muss dafür auch ein großes Opfer bringen. Das anrührende, vielschichtige und glänzend gespielte Regiedebüt von Robert Kéchichian erhielt auf dem Filmfest zu Recht den "High Hopes Award" in Höhe von 25.000.- Euro.
Hierankl
Frischer Wind aus Deutschland
Bei der Auswahl der deutschen Kinobeiträge hatten die Organisatoren dieses Jahr viel Glück und eine gute Hand und auch mit den Preisträgern des "Förderpreis Deutscher Film" konnte man diesmal zufrieden sein. Deutsche Filmemacher haben es inzwischen offenbar gelernt, ihren eigenen Geschichten zu vertrauen und diese dem Publikum auch ansprechend zu vermitteln. Hendrik Handloegten (Drehbuchpreis) lässt in der Romanverfilmung
Liegen lernen erfrischend unkompliziert und präzise die 1980er Jahre wieder aufleben und erzählt die tragikomische Geschichte des Erwachsenwerdens aus der Sicht eines 32-Jährigen, der immer noch einer unerfüllten Liebe nachhängt, als Komödie mit Tiefgang. – Man möchte kaum glauben, dass Hans Steinbichler (Regiepreis) mit dem modernen Heimatfilm
Hierankl seinen Abschlussfilm an der Münchner Filmhochschule gedreht hat, so perfekt sind die Schauspieler geführt, so unspektakulär und doch intensiv sind einzelne Szenen, in denen die weibliche Hauptfigur (Darstellerpreis für Johanna Wokalek) nach ihrer Rückkehr in die ländliche Heimat die Lebenslügen ihrer Eltern aufdeckt, denen sie selbst zum Opfer gefallen ist. Selbst wenn das Drehbuch dieser Familie manchmal ein kaum realistisches Bündel diverser Probleme auferlegt, wirken die daraus resultierenden Spannungen und Konflikte glaubhaft bis ins Detail vermittelt und Ambiente, Atmosphäre und Timing stimmen ebenfalls. Ein bittersüßer Heimatfilm, der seinem Genre neue Impulse zu geben vermag und große Erwartungen auf weitere Arbeiten des Regisseurs weckt. Stimmiger und differenzierter als Max Färberböck in
September setzt sich Elmar Fischer in
Fremder Freund mit dem 11. September und seinen Auswirkungen auf menschliche Beziehungen auseinander. Kurz vor diesem Datum verschwindet ein Student aus dem Jemen spurlos aus Berlin. Sein deutscher Freund, mit dem er über ein Jahr lang die Wohnung teilte, erinnert sich an die Entwicklung dieser Freundschaft, die von großer gegenseitiger Sympathie getragen ist und auch Durststrecken überstand, in denen der Moslem sich vorübergehend zum fanatischen Islamisten wandelte. Die Suche nach dem verschwundenen Freund entwickelt sich zu einem intensiven Kammerspiel um Vertrauen und Misstrauen, Verständigung und kulturelle Unvereinbarkeiten, echte und missbrauchte Freundschaft. Lediglich die manchmal etwas kompliziert verschachtelten, achronologischen Rückblenden trüben den positiven Gesamteindruck.
Autor/in: Holger Twele, 01.06.2003