Berlinale 2004 – Jugendthemen in der neuen Reihe "14plus"
Scratch (Foto: Berlinale)
Erstmals 2004 gibt es in der Kinderfilmsektion der Berlinale auch einen Wettbewerb mit diesmal acht Filmen, die sich speziell an Jugendliche richten. Sie schließen die Lücke, die bisher zwischen der Kinderfilmreihe und den "normalen" Filmen für Erwachsene lag, und bieten eine Auswahl von Themen, mit denen sich die angesprochene Zielgruppe altersspezifisch und gegenwartsbezogen besonders auseinander setzt.
Nur noch Bea (Foto: Berlinale)
Orientierungslosigkeit
Programmatisch steht der Eröffnungsfilm Bagland/Scratch (Dänemark 2003; Anders Gustafsson) für die ganze Reihe: Mille, eine junge Frau, ist auf der mitunter tragischen Suche nach ihrem Platz im Leben, nach Eigenständigkeit und Selbstverantwortung. Mille wohnt im Jugendwohnheim, die Mutter ist Alkoholikerin, der Vater unbekannt. Sie möchte aus ihrem Milieu heraus, endlich auf eigenen Beinen stehen, mit ihrem Freund Kenny zusammenziehen, den sie seit zwei Jahren kennt. Als beide tatsächlich eine Wohnung finden, fangen die Schwierigkeiten erst richtig an. Kenny ist arbeitslos und hängt ständig zu Hause herum, macht krumme Geschäfte und gerät an Kredithaie. Mille lernt den dunkelhäutigen Rapper Sami kennen und verliebt sich in ihn. Mit Rambo-Manieren versucht Kenny, seine Freundin zurückzugewinnen. Am Ende bleibt Mille nur das Weggehen, um ihren eigenen Weg zu finden. Ihre verzweifelte Suche nach Halt und Orientierung ist authentisch mit Handkamera und schnellen Schnitten eingefangen und in diesem Fall ist dieser seit der Dogma-Bewegung fast schon im Übermaß praktizierte Inszenierungsstil wirklich gerechtfertigt.
United (Foto: Berlinale)
Frühstarter und Spätstarter
Der Gegensatz zwischen romantischen Liebesidealen und der oftmals ernüchternden Realität ist in europäischen und westlich geprägten Ländern gegenwärtig ein besonders beliebter Filmstoff. Mit den Erfahrungen des "ersten Mals" lässt er sich besonders pointiert darstellen. Kein Wunder also, dass die 16-jährige Hauptfigur in Bare Bea/Nur noch Bea (Norwegen, Schweden 2004; Petter Næss) Probleme damit bekommt, offenbar die letzte in ihrer Klasse zu sein, die noch über keine einschlägigen Erfahrungen verfügt. Während ihre Freundinnen recht aufdringlich Hilfestellung beim ersten Rendezvous leisten und der Lieblingsschwarm der Klasse Bea eindeutige Avancen macht, löst sich das Mädchen von äußeren Erwartungshaltungen und findet zu einer eigenen Entscheidung. Als "Lehrfilm für Jungs" angekündigt, unterhaltsam und temporeich, humorvoll und einfühlsam in Szene gesetzt, ist der Film freilich ohne echte Überraschungen und konventionell erzählt. – Ganz anders inszeniert, aber thematisch ähnlich gelagert ist United (Norwegen 2003; Magnus Martens) mit einer Geschichte über einen "Spätpubertierenden". Kåre ist 26 und noch mit seiner ersten Freundin zusammen, ohne sie geheiratet zu haben. Wie vor zehn Jahren träumt er davon, Profifußballer zu werden und erst dann möchte er seiner Angebeteten einen Heiratsantrag machen. Seine Anstrengungen, das "Kicken und Küssen" mit vollem Einsatz unter einen Hut zu bringen, sind nicht sehr erfolgreich: Kåre hat es nur zum Trainer einer Jugendmannschaft geschafft und verdient als einfacher Arbeiter nicht genug, um einen Kredit für das Traumhaus zu erhalten. Als ein geschäftlich erfolgreicher, ehemaliger Mitschüler in den Ort zurückkommt, zerplatzen alle Träume. Die Freundin wendet sich dem Yuppie zu und Kåre muss erneut um sie kämpfen. Seinen besonderen Humor erhält der Film durch einen älteren Off-Erzähler und durch einen Jungen aus Kåres Jugendmannschaft. Der ist zwar der Schlechteste beim Fußball, wird Kåre aber schnell zur unverzichtbaren moralischen und ratgeberischen Stütze, um dessen Jugendträume doch noch in die Realität hinüber zu retten. In dieser ironisch-liebenswerten Brechung wirkt das tägliche Scheitern in Beruf und Liebe weniger bedrohlich als unterhaltsam.
Jargo (Foto: Berlinale)
Einfach cool sein
In Deutschland, so gewinnt man den Eindruck, scheint es für Jugendliche heute das Wichtigste zu sein, cool zu wirken. Jedenfalls ist das so in Berlin beziehungsweise in Jargo (Deutschland 2003; Maria Solrun). Nach dem Selbstmord seines deutschen Vaters zieht der in Saudi-Arabien aufgewachsene Jargo nach Berlin und trifft dort als blonder Araber auf den türkischstämmigen Berliner Kamil. Den Rat seines Vaters in Ohren, "mit 16 ein Mann sein" zu müssen – was immer das heißen mag – versucht Jargo, in der fremden Umgebung zurecht zu kommen, und mit flotten Sprüchen verschafft er sich schnell Respekt. Mit den kulturellen Gegensätzen gibt es offenbar kaum Probleme. Viel stärker ins Gewicht fällt, dass Kamil als Kleinkrimineller seinen neuen Freund Jargo in dubiose Geschäfte hineinziehen möchte und Kamils Freundin Mona nicht nur drogensüchtig ist, sondern auch noch Jargo "verführt" und damit die beiden Freunde gegeneinander aufhetzt. Der bisher so joviale wie coole Kamil schwört grausame Rache und spannt dafür die "filippinische Zigarettenmafia" ein, die natürlich gleich im selben Mietshaus wohnt. Hier werden "unberechenbare" Jugendgefühle als dramaturgisches Stilmittel missbraucht und soziale Probleme erstarren zum Klischee. Trotz solcher Mängel vermittelt der Film tatsächlich etwas vom Lebensgefühl dieser Jugendlichen. Sie suchen sich gegenseitig an Coolness zu übertreffen und liefern dafür leidlich gute Hip-Hop-Nummern, die vom Soundtrack unterstützt und weitergeführt werden.
Quality of Life (Foto: Berlinale)
Identitätssuche und künstlerischer Ausdruck
Als das Familienoberhaupt in den Knast kommt, müssen die vier Söhne selbst sehen, wie sie zurecht kommen und ihre ansehnlichen Schulden abbezahlen können. Helmiä ja sikoja/Perlen und Säue (Finnland 2003; Perttu Leppä) ist aber viel zu sehr seichte Komödie, um aus dieser schwierigen Ausgangslage ein Familiendrama zu machen. Stattdessen taucht eine zehnjährige Halbschwester auf, die von der Mutter kurzerhand rausgeworfen wurde, weil der im Gefängnis einsitzende Vater keinen Unterhalt mehr zahlte. Das Kind entpuppt sich als äußerst talentierte Karaoke-Sängerin und mit ihrer Hilfe und einem nationalen Musikwettbewerb hoffen die Halbbrüder, ihre Schwierigkeiten ohne die Erwachsenen meistern zu können. Wenn Saara, so heißt die Halbschwester, nur nicht so schüchtern wäre ... – Da hat es die jugendliche Sprayerszene in San Francisco ungleich schwerer, um die es in Quality of Life (USA 2003; Benjamin Morgan) geht. Bereits als Kids haben Michael und Curtis zusammen Graffitis erstellt und damit auch ein Stück Identität und Selbstwertgefühl erreicht. Zehn Jahre später werden sie von der Polizei enttarnt und verhaftet. Neben hohen Schadenersatzforderungen für die "beschmierten" Hauswände, Mauern und Autos ist ihnen damit auch der künstlerische Selbstausdruck über Nacht genommen, der ihnen bereits in der Schule versagt bliebt. Während der eine an dieser Situation zerbricht und durchdreht, versucht der andere, sich mit den Anforderungen der Gesellschaft zu arrangieren. Für seinen Freund jedoch kommt jede Hilfe zu spät. Ein ungeschminkter Blick auf die Realität, der auch in seiner dokumentarisch ungefälligen Art kompromisslos verdeutlicht, dass Jugendliche eigene Bedürfnisse haben und man dieser Tatsache mit Verboten allein sicher nicht gerecht werden kann.
Das Paradies ist anderswo (Foto: Berlinale)
Auf Leben und Tod
Die internationale Zusammenstellung unterschiedlichster Themen und Erzählstile machte deutlich: Nicht überall auf der Welt haben die Jugendlichen dieselben Probleme oder diese haben zumindest eine andere Rangskala. Im außereuropäischen Bereich gibt es offensichtlich "wichtigere" Dinge, als die Frage nach dem passenden Zeitpunkt der ersten sexuellen Erfahrungen. Und auch die "typische" Orientierungslosigkeit scheint wohl eher ein westliches Zivilisationsproblem. Behesht ja-ye digari ast/Das Paradies ist anderswo (Iran 2003; Abdolrasoul Golbon) erzählt die Geschichte des 17-jährigen Eidok. Er muss die Ziegen seiner Familie hüten und träumt davon, in die Arabischen Emirate zu gehen, um auf eigenen Beinen stehen und endlich unabhängig sein zu können. Gerade als er das benötigte Geld zusammengespart hat und ein befreundeter afghanischer Flüchtling seinen Job als Ziegenhirte übernehmen könnte, kommt der Vater bei einem Betriebsunfall ums Leben, den dessen Chef zu verantworten hat. Nach den Gesetzen der Blutrache muss Eidok diesen töten, doch zunächst weigert er sich. Als er sich dem gesellschaftlichen Druck beugt, wird er von der Polizei verfolgt. Mit Hilfe einiger Dorfbewohner soll er das Land verlassen, um nicht im Gefängnis zu landen. Doch damit würde er auch seinen Freund verraten. Ungewöhnlich offen und realitätsnah greift dieser Film gesellschaftliche Missstände im eigenen Land auf, statt sie in einfachen symbolischen Geschichten zu verpacken: das Dilemma zwischen den archaischen Geboten und den modernen Gesetzen des Staates, mangelnde Zukunftsperspektiven und unzumutbare Arbeitssituationen. Für persönliche Dinge, geschweige denn für die Liebe, ist gar keine Zeit. Das Paradies gibt es für Eidok nur in seinem Land der Träume, nicht aber in der eigenen Heimat.
Die hölzerne Kamera (Foto: Berlinale)
Filmische Realität
The Wooden Camera/Die hölzerne Kamera (Frankreich, Großbritannien, Südafrika 2003; Ntshavheni Wa Luruli) ist der vielleicht interessanteste Beitrag der neuen Reihe. Durch Zufall kommt der etwa 15-jährige Madiba zu einer Videokamera. Versteckt in einem unscheinbaren hölzernen Gehäuse glaubt niemand, dass der Junge aus den Slums von Südafrika seine Umwelt tatsächlich filmt und so gelingen ihm ungeschminkte Szenen aus dem harten Alltag der schwarzen Bevölkerung in Capetown/Südafrika. Eines Tages lernt der Junge die gleichaltrige Estelle kennen, die aus sehr reichem Elternhaus stammt und im abgeschirmten Wohnviertel der Weißen mit allem erdenklichen Luxus aufgewachsen ist. Gegen den Widerstand von Estelles Vater, der ein dunkles Geheimnis aus seiner Familienherkunft bewahrt, befreunden sich die beiden Jugendlichen und Madiba verliebt sich in das Mädchen. Seine Loyalität zu einem älteren Freund aus der Straßengang bringt ihn allerdings bald in große Gefahr. Während Madiba davon träumt, später einmal professioneller Filmemacher zu werden, holt sich sein Freund alles mit Waffengewalt, was ihm das Leben bisher vorenthalten hat. Eines Tages tötet er fast beiläufig einen anderen Straßenjungen, gerät kurze Zeit später dann selbst an die Falschen. Gewalt scheint in diesem Film so alltäglich und beiläufig, wie sie wohl tatsächlich in dieser Gegend ist, wo Arm und Reich, vom Leben Begünstigte und gesellschaftlich Benachteiligte dicht nebeneinander wohnen. Das sind zwei Welten, die manchmal aber gar nicht so untrennbar und unabhängig nebeneinander bestehen. Am Ende fliehen Madiba und Estelle, weg in eine unbekannte Zukunft, die ihnen mehr Geborgenheit und Nähe verspricht.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006