Alle lieben Geschichtenerzähler wie Edward Bloom, der die Menschen mit seinen märchenhaften Abenteuern von Kindheit an begeisterte. Bereits seine Geburt war spektakulär: Der kleine Edward flutschte nur so heraus und dann fünfzig Meter über den Krankenhausflur – er war eben schon immer schneller als die anderen. Später hat er es mit Riesen aufgenommen, mit Hexen, Werwölfen, siamesischen Zwillingen und einem großen Fisch, den niemand anderes fangen konnte als ein großer Fisch wie er selbst . Den Zweiten Weltkrieg hat der Südstaatenspross Edward Bloom fast alleine gewonnen. Und auch sonst tat er nur Gutes für die Menschen, die ihn liebten und von seinen Geschichten nie genug bekommen konnten. Nur einer kann sie nicht mehr hören. Edwards Sohn Will leidet unter diesem übermächtigen Vater und seiner alles gewinnenden Fantasie. Drei Jahre hat er sich nicht mehr bei ihm blicken lassen, um endlich ein eigenes Leben zu beginnen. Erst als der Alte im Sterben liegt, kehrt er zu ihm zurück. Der Sohn will wissen, wie es wirklich war. Bevor es zu spät ist, soll der Vater endlich die Wahrheit erzählen, die Realität von der Fiktion trennen. So, wie er es berichtet, kann es nicht gewesen sein – oder doch?
Der Regisseur als Geschichtenerzähler
Auch Regisseur Tim Burton ist ein großer Geschichtenerzähler. Sein Kino hat sich um die äußere Realität nie sonderlich bemüht, und wenn es eine Lehre aus
Big Fish gibt, dann die, dass eine gute Story einer schlechten Wirklichkeit allemal vorzuziehen ist. Das ist das Vorrecht einer Kinokunst wie Burton sie betreibt. Aber man ist skeptisch, wenn dieser Mann des Fantastischen sich nun einem Thema widmet, das so sehr in der Realität verankert ist wie das Trauma einer unverarbeiteten Vater-Sohn-Beziehung. Verfügt er überhaupt über die Mittel einer ernsthaften Annäherung oder ist das ehemalige enfant terrible, mittlerweile längst im Mainstream angekommen, gar selbst ein "großer Fisch"?
Geschönte Vaterbiografien
Wie oft, wenn es um Hollywood geht, ist jede Antwort richtig und falsch zugleich. Burton ist ein Meister der Übertreibung; ein Funken Wahrheit findet sich in seinem Film ebenso wie in den Geschichten Edward Blooms. Vaterbilder beruhen immer zu einem Teil auf Fiktion: Der Vater hat den Vorteil, der Ältere zu sein, der seine eigene Vergangenheit ausschmücken und schönfärben kann, bis sie dem Sohn, der in seine Fußstapfen treten soll, als unerreichbares Vorbild auf der Seele lastet. Kinder sollen es besser haben als die Eltern, heißt es, nie aber sollen sie besser sein.
Der unterlegene Sohn
Der Mittdreißiger Will ist in einem Alter, in dem er sich von seinem Vater "nichts mehr erzählen lassen" muss. Als Journalist fühlt er sich der Wahrheit verpflichtet, als Sohn kann er ohne sie nicht leben. Er erwischt den Vater in einem "günstigen" Moment: Edward liegt im Sterbebett. Das erste Mal in seinem Leben ist Will, der nun auf seinen Vater herunter blickt, ihm auch optisch "überlegen". Dennoch kommt es auch hier noch zu Konkurrenzsituationen, in denen Will unterliegt. Edward denkt nicht im Traum daran, seine fantastischen Erlebnisse zu relativieren, findet in Wills Frau Josephine sogar eine weitere ergebene Zuhörerin. Die Mutter Sandra, selbst nur Objekt von Edwards Erzählungen, gibt die Geheimnisse ihres Mannes nicht preis, so sehr ihr Sohn auch darunter leidet. Dabei ist sie wie in vielen Familien die einzige Verbindung zum Vater. Über die drei Jahre seiner Abwesenheit hat sie Will über den Zustand des Hausherrn auf dem Laufenden gehalten.
Das Vermächtnis des Vaters
Offensichtlich muss der Schlüssel zur Wahrheit und zum Verständnis des Vaters doch in den abstrusen Abenteuern liegen, die ohnehin Edwards ganzes Wesen und den Großteil des Films ausmachen. Der junge Edward verlässt früh seine Heimatstadt, um die Welt zu erforschen, denn wie der Riese, der seine Wege kreuzt, ist er ein "zu großer Fisch für einen kleinen Teich". Immer wieder entscheidet sich Edward, das Bekannte zu verlassen und das Glück an anderer Stelle zu suchen, während die Frauen, denen er begegnet, sich nicht von der Stelle rühren. Da ist die Hexe, die ihm schon als Kind die Umstände seines Todes mitgeteilt hat und der er zwischendurch ihr Haus repariert. Und natürlich die junge Sandra, deren genauen Wohnort er nur erfährt, indem er sich drei Jahre in einem Zirkus verdingt. Erst der unbedingte Glaube an die eigenen Fähigkeiten und an die Macht der Fiktion lassen den Jungen zum Mann werden. Das ist die Lektion, die Edward seinem Sohn mit auf den Lebensweg geben will und die Will erst begreifen muss. Die Suche nach der reinen Wahrheit ist ein Irrweg, stattdessen gilt es, seine Identität in den Träumen zu finden.
Zwei Seiten einer Medaille
Die überdeutliche Auflösung am Ende wirkt ein wenig schal, auch weil Burton letztlich mit sehr herkömmlichen Motiven arbeitet. Er spielt den Peter-Pan-Komplex des Vaters gegen den Ödipus-Komplex des Sohnes aus, als wüsste er nicht, dass beides zwei Seiten einer Medaille sind. Bezeichnend ist, dass sich weder Edward noch der Film für dessen Vater zu interessieren scheinen. Tim Burton ist mit 45 Jahren bei den Märchen und Sagen angelangt, die Eltern für ihre Kinder erfinden. Die dunkle Magie früherer Filme (
Edward mit den Scherenhänden, Sleepy Hollow) hat er hinter sich gelassen. Das Leben, das er vorschlägt, ähnelt dem Zirkus, der ständig in Bewegung ist: ein Theater des Grotesken, in dem Riesen, Zwerge und andere Kuriositäten als Fiktionen ihrer selbst glücklich sind. Stillstand und Tod werden durch das verwunschene Südstaatendorf Spectre symbolisiert, dessen idyllische Normalität Edward umgehend das Weite suchen lässt. Beide Lebensformen geben fabelhafte Bilder ab, und auch die Besetzung Ewan McGregors als junge Verkörperung des schauspielerischen Übervaters Albert Finney ist so glücklich gewählt, dass man Burton jede seiner Übertreibungen gerne verzeiht. Für sie wird er schließlich geliebt.
Autor/in: Philipp Bühler, 01.04.2004