Gerichtsfilme haben es schwer – sie müssen den visuell wenig abwechslungsreichen Vorgängen im Gerichtssaal und dessen räumlichen Beschränkungen Spannung abgewinnen und das mit einem begrenzten Repertoire an Rollen. Mit
Das Urteil ist Regisseur Gary Fleder ein ausgesprochen spannender Gerichtsfilm gelungen, der die wenigen Verhandlungstage vor einer Urteilsverkündung dokumentiert und dabei vor allem vom Aufeinandertreffen der beiden Gegner in einem Schadenersatzverfahren gegen einen Waffenhersteller profitiert: dem Jury-Berater Rankin Fitch (Gene Hackmann) und dem Anwalt Wendell Rohr (Dustin Hoffman). Die junge Witwe eines beim Amoklauf eines Kollegen erschossenen Börsenmaklers hat den Prozess mit Hilfe des etwas schrulligen, aber moralisch aufrechten Anwalts angestrengt.
Schadenersatzklage gegen die Waffenindustrie
Da die Klage der beiden Aussicht auf Erfolg haben könnte, ist die Waffenlobby in Angst und Schrecken versetzt. Sie fürchtet einen Präzedenzfall und damit eine nicht kalkulierbare Anzahl von Folgeklagen und Schadenersatzforderungen durch die Angehörigen zufällig erschossener Opfer. Darum heuert die Waffenindustrie einen so genannten Jury-Berater an, den skrupellosen Rankin Fitch. Er soll alle potenziellen Geschworenen genau durchleuchten, bevor sie verpflichtet werden, denn Anklage wie Verteidigung können eine bestimmte Anzahl von möglichen Geschworenen ablehnen. Diese inoffizielle Vorauswahl funktioniert bei Fitch nach dem Prinzip: emotionale, engagierte, familienorientierte Leute raus und Waffennarren, männliche Singles, Kriegsveteranen rein. Außerdem gibt es noch ein Jurymitglied und seine außerhalb des Gerichtssaals agierende Komplizin, die eigene Interessen verfolgen und beiden Parteien signalisieren, sie könnten die Geschworenen direkt zum einen oder anderen Votum beeinflussen.
Dubiose Auswahl der Geschworenen
Der Film beginnt mit der vorläufigen Aufstellung der Geschworenen: In der nur künstlich beleuchteten High-Tech-"Kommandozentrale" des Jury-Beraters Fitch arbeiten Rechercheure/innen Tag und Nacht, um Biografisches über die per Zufallsprinzip ausgewählten Juroren/innen zusammenzutragen. Kontostand, Schwächen, politisches Engagement, Beziehungspartner/innen, Krankheiten – es gibt nichts, das nicht von Interesse wäre, schließlich geht es darum, ihre Einstellung zum Besitz und Gebrauch von Schusswaffen herauszufinden. Schlaglichtartig zeigt der Film, nach welchen Prinzipien die Verteidigung vorgesehene Juroren/innen akzeptieren oder ablehnen wird. Auch der Anwalt der Klägerin trifft seine Auswahl, verlässt sich aber mehr auf Augenschein und Erfahrung.
Zwei Rechtsauffassungen – zwei Outfits
Die gegensätzlichen Rechtsauffassungen der beiden Gegenspieler werden nicht nur durch deren Methoden, sondern vor allem auch durch ihr Äußeres deutlich: Fitch trägt Maßanzüge, ist sorgfältig manikürt, frisiert und rasiert – dieses teure Understatement dient dem Kriminellen mit dem "weißen Kragen" als Fassade. Wendell Rohr dagegen tritt mit einem Fleck auf der Krawatte in Erscheinung, er wirkt ein wenig unordentlich, zerstreut und desorganisiert. Als sich die beiden in der Herrentoilette des Gerichts zum ersten Mal persönlich begegnen, können sie ihre gegenseitige Verachtung nicht verbergen.
Das "Kuckucksei" unter den Geschworenen
Nick Easter hat es geschafft, sich den Anschein äußerster Durchschnittlichkeit zu geben und von beiden Parteien ohne jeden Vorbehalt akzeptiert zu werden. Spätestens jedoch, als er eine Jurorin als Alkoholikerin bloßstellt, begreifen beide Parteien, dass Easter tatsächlich einiges zuzutrauen ist. Die in Misskredit geratene Jurorin muss ersetzt werden. Unterdessen ruft Easters Freundin "draußen" die gegnerischen Parteien im Verfahren an und fordert eine Millionensumme für die Manipulation der Jury.
Erwartetes und zugleich überraschendes Ende
In den USA wird von einen Prozess führenden Parteien immer wieder versucht, Einfluss auf die offiziell streng abgeschirmten und unter Beobachtung stehenden Geschworenen zu nehmen. Aber auch dort wird in der Regel nach Gesetzbuch und nicht nach Bestechungssumme entschieden, denn sonst würden die Fälle, in denen es anders läuft, wohl nicht an die Öffentlichkeit dringen. Bei Romanautor John Grisham siegt natürlich immer die Gerechtigkeit und Ausnahmefälle sind nun einmal der Stoff von Kriminalliteratur. Auch Regisseur Gary Fleder hat seinen Film auf ein großes, der Gerechtigkeit huldigendes Showdown hin inszeniert und vorher noch eine ganz unerwartete Wendung eingebaut.
Duell der Giganten
Das Urteil ist die bisher bei weitem beste aller Grisham-Adaptionen, von denen viele, wie auch ihre literarischen Vorlagen, an der Blutleere und Realitätsferne ihrer Figuren litten. Fleder aber ist es gelungen, dem schematischen Grisham-Plot Leben einzuhauchen. Das liegt vor allem an den beiden Hauptdarstellern Dustin Hoffmann und Gene Hackmann, die beide seit etwa vierzig Jahren im Showgeschäft sind und in diesem Film zum ersten Mal gemeinsam vor der Kamera stehen – ein sehenswertes Duell der Giganten.
Autor/in: Daniela Sannwald, 01.05.2004