Das Interview führte Holger Twele.
Was reizte Sie an dem sozialen Thema?
Es macht ein gutes Drama aus, ein Drama entsteht durch Konflikte. Ich bin vor allem an kulturellen, sozialen, religiösen und rassischen Gegensätzen und Konflikten interessiert. Diese Themen sind sehr bedeutsam für das Überleben in der Welt: Wie gehen wir mit Unterschieden um, ohne uns zu vernichten? Diese Themen sind mir persönlich wichtig, aber sie sind auch politisch und sozial wichtig. Ich beginne aber nicht mit der Arbeit an einem Film, indem ich darüber nachdenke, welches Thema ich behandeln möchte. Am meisten fühle ich mich von normalen, einfachen Menschen überall auf der Welt inspiriert, gerade wenn sie etwas Heldenhaftes an sich haben. Ich begann hier mit dem Charakter von David und mit der Situation, die eingangs im Film gezeigt wird, als David den Ball verfehlt. Und dann untersuchte ich seinen Charakter, seine Familie, sein Umfeld, wie es auf diesen Charakter reagiert und was mit den Leuten in der Nachbarschaft passiert. Wenn ich also eine Geschichte schreibe, entwickelt sie sich automatisch aus dem heraus, was mir wichtig ist, denn so arbeitet mein Verstand. Es ist sehr gefährlich, wenn ein Autor oder ein Regisseur zu früh an die Thematik und dann erst an die Story denkt, denn dann werden die Leute später kommen und fragen, worum es im Film eigentlich gegangen ist.
Liebe und Freundschaft zwischen den Kulturen sind die bevorzugten Themen ihrer beiden letzten Spielfilme. Warum?
Das trifft nicht nur auf meine letzten Spielfilme zu, sondern gleichermaßen auch auf alle Dokumentarfilme, die ich zuvor gedreht habe. Das ist eben die wichtigste Aufgabe in unserer Gesellschaft, der wir uns weltweit stellen müssen. Der Dokumentarfilm und der Spielfilm nähern sich diesem Thema lediglich von unterschiedlichen Seiten. Nachdem ich den Spielfilm für mich entdeckt habe, werde ich auf dieser Ebene weiter arbeiten, zumal es da viel mehr Leute gibt, die einem bei der Erzählung einer Geschichte helfen.
Toleranz und multikulturelle Gesellschaften sind sehr aktuell. Warum ist die Handlung des Films in den 1960er Jahren angesiedelt?
Weil das genau die Zeit war, in der Großbritannien sich zur multikulturellen Gesellschaft entwickelt hat. Dieser Übergang von den Fünfzigerjahren zu den Sechzigern, den ich selbst als Kind erlebt habe, bedeutete für Großbritannien einen Wendepunkt. Damals waren die Gegensätze auch besonders deutlich, heute sind sie viel mehr verdeckt, was mir Leonie, die Darstellerin der Judy im Film, übrigens auch bestätigt hat.
Warum kommen die Immigranten gerade aus Jamaika?
Die größte Einwandererwelle Ende der Fünfzigerjahre kam aus der Karibik. Erst später folgten die Menschen aus Asien und dann aus Afrika. Als ich selbst ein Kind war, gab es diese berühmten Aufstände in Notting Hill. Und ich kann mich auch noch daran erinnern, als die erste Familie aus Westindien in unsere Nachbarschaft zog und meine Großmutter deshalb sehr wütend wurde, obwohl sie eigentlich sehr lieb und verständnisvoll war.
Warum waren die Wisemans als Juden letzten Endes stärker isoliert, als die Zuwanderer aus der Karibik?
Die Juden kamen eigentlich viel früher nach Großbritannien, in der Zeit um 1900 und dann auch in den 30er Jahren. Aber hier ist die Familie von David in der Straße ziemlich isoliert, die Großeltern starben im Holocaust, die Nachbarn sind alle nichtjüdisch und der Vater hat sein Geschäft dort errichtet, wo er am ehesten einen Bedarf vermutete. Es stimmt, dass die westindische Familie eigentlich der jüdischen Familie hilft, die Isolation zu überwinden.
Davids "Coming of Age" korrespondiert mit der Herausbildung einer multikulturellen Gesellschaft in Großbritannien. Kann man diese beiden Entwicklungsstränge direkt vergleichen?
Ja, es ist ein Film über das Heranwachsen. David muss erwachsen werden, seine Mutter muss sich entwickeln und unabhängiger von ihrem Mann werden, sein Vater muss lernen, ein richtiger Vater zu werden. Die Gesellschaft um diese Familie herum durchläuft ebenfalls einen Entwicklungsprozess und lernt, tolerant zu sein und mit Menschen zusammenzuleben, die anders sind.
Ihr Film endet optimistisch. Sind Sie persönlich auch so optimistisch in Bezug auf die Entwicklung unserer Gesellschaft hin zu mehr Toleranz?
Manchmal bin ich es und manchmal wieder nicht. Mein nächster Film wird wohl eher pessimistisch sein. Es geht um eine schwule Liebesgeschichte. Aber bei diesem Film habe ich meinen Pessimismus und meine Niedergeschlagenheit überwunden.