Chava, der hübsche dunkle Lockenkopf mit den kastanienbraunen Augen, nähert sich einem gefährlichen Alter: Nach seinem 12. Geburtstag muss er fürchten, von der Armee rekrutiert zu werden – so wie viele andere Jungen in seiner Schule. Basierend auf der wahren Kindheitsgeschichte des Drehbuchautors Oscar Torres erzählt Luis Mandoki die Geschichte eines Jungen im Bürgerkrieg von El Salvador um 1980. Chava kämpft darum, als Ersatzoberhaupt der Familie bei seiner Mutter und seinen Geschwistern bleiben zu dürfen. Denn der abwesende Vater hat sich der Guerilla angeschlossen, die Armee benötigt Kindersoldaten, der Onkel hingegen möchte ihn lieber bei der Guerilla einschleusen.
Unter Beschuss
Chava erlebt tagtäglich die Gefechte mit, denn die Fronten zwischen dem staatlichen Militär und den Guerillas verlaufen mitten durch sein Dorf. Wenn Schüsse durch die dünnen Hauswände pfeifen, weiß der Junge genau, wie er sich und die Geschwister schützt: Blitzschnell reißt er die Matratzen aus den Betten, drückt sie an die Wand und verkriecht sich darunter. Angst geht auch in der Schule um, wenn die verhassten Jeeps der Militärs vorfahren. Der Schuldirektor verliest die Namen derer, die ab diesem Tag keine Kinder mehr sein dürfen. Sie werden auf den Transporter verladen und kehren nicht mehr zurück. Vergeblich beschwören einige Lehrer/innen und der Dorfpastor die Soldaten, sie mögen doch die Kinder verschonen. Ihr Appell an Menschlichkeit und Verstand stößt jedoch auf taube Ohren. Einmal läuft ein Junge weg; ein Soldat folgt ihm, ein Schuss fällt. In den entsetzten Gesichtern der Kinder spiegelt sich das Wissen um den Mord an ihrem Mitschüler. Ein Junge weint und pinkelt sich in die Hose. Beim nächsten Mal verstecken sich die Kinder. Doch nicht alle bleiben unentdeckt wie Chava, der wieder einmal Glück hat. Von einem Wellblechdach aus, auf das er mit ein paar Freunden geklettert ist, wird er Zeuge, wie die Uniformierten andere Jungen mit Gewalt aus ihren Verstecken herauszerren und vor den Augen ihrer verzweifelten Mütter wegschleppen.
Das Ende einer Kindheit
Solche bedrückenden Szenen wechseln ab mit Schilderungen aus einem ganz gewöhnlichen Kinderalltag: Chavas erste Liebe zu einer Mitschülerin, Streit mit den Freunden beim Spiel am Fluss, Ärger mit der stets überarbeiteten und besorgten allein erziehenden Mutter, die sein geliebtes Radio konfisziert, das den Jungen in Teufelsküche bringen könnte. Chava hatte auf offener Straße im Angesicht der Militärs einen verbotenen Protestsong der Guerillas gehört. Der vorübergehende Verlust des Geräts ist nicht die einzige herbe Enttäuschung, die es zu verkraften gilt. An seinem 12. Geburtstag entdeckt Chava nur elf Kerzen auf seinem Kuchen, was ihm das Gefühl gibt, er dürfe nun nicht älter und erwachsener werden. So wird er um seine Kindheit und zugleich um seinen natürlichen Entwicklungsprozess betrogen. Darüber kann ihn auch der Dorfpastor nicht hinwegtrösten, in dessen Kirche der Junge oft Zuflucht sucht. Der Gottesmann ist eine Art Vorbild für den vaterlos aufwachsenden Jungen. Fasziniert beobachtet er den Alten, wie er immerfort selbstlos für Andere eintritt, sich mit den Militärs anlegt, ihnen den Zutritt zur Kirche verwehrt oder sich vergeblich schützend vor ein paar Mädchen stellt, denen sexuelle Gewalt droht.
Empathie statt Analyse
Auf historische Details und Hintergründe über den Bürgerkrieg in El Salvador, an dem sich auf Seiten der Regierungstruppen auch die USA beteiligten, geht Mandoki nur am Rande ein. Denn es geht dem mexikanischen Regisseur weniger um eine präzise Darstellung des Bürgerkriegs, als um eine generelle Anklage gegen alle Staatsmächtigen, die Kinder als Soldaten in den sicheren Tod schicken oder ihnen zumindest schwere seelische und physische Verletzungen zufügen. Luis Mandoki war dabei gut beraten, seine Geschichte überwiegend aus der Perspektive seines Helden zu erzählen und sich somit ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen bei den Zuschauenden zu sichern. Nur gelegentlich gibt es Szenen aus dem Blickwinkel der Mutter, die dem Krieg ebenso hilflos ausgeliefert ist wie alle anderen Frauen und Kinder.
Kino der großen Gefühle
In Carlos Pedilla hat Mandoki einen idealen Hauptdarsteller gefunden, der nicht nur seine Figur sehr authentisch verkörpert, sondern zugleich als hübscher Junge mit seinem Charme das Publikum in besonderer Weise für sich einnimmt. Der Regisseur, der seit seinem erfolgreichen Kinodebüt Ende der 1980er-Jahre ausschließlich in Hollywood arbeitete, bedient sich auch hier der Mittel des Mainstream-Kinos. Das macht den Film aber keineswegs oberflächlich, im Gegenteil:
Innocent Voices ist ein großartiger, bewegender Film, der den Opfern eine Stimme gibt. Nur gegen Ende hin gerät die ästhetische Bebilderung doch einmal in gefährliche Nähe zum pathetischen Gefühlskino, etwa wenn die in Gefangenschaft geratenen Jungen im schlammigen Dauerregen immer noch niedlich aussehen, oder die Hinrichtung von Chavas drei Freunden so spannend wie ein Krimi inszeniert ist, obwohl man bereits ahnt, dass Chava, der als Letzter exekutiert werden soll, verschont bleiben wird. Wenn es nach derart grausamen Schreckensszenarien noch so etwas wie ein Happy End gibt, liegt das auch an der biografischen Ausrichtung und der wahren Geschichte des Drehbuchautors. Eine Wirkung indes ist dem Film gewiss: Wie bei allen politischen Filmen amerikanischer Machart, die gekonnt die Klaviatur der Emotionen bedienen, zerfließt am Ende wohl jede/r in Tränen.
Autor/in: Kirsten Liese, 01.05.2005