Küsse mit Kondensmilch: Der elfjährige Gonzalo und sein gleichaltriger Freund Pedro Machuca nehmen einen Schluck, dann küssen sie Silvana. Sie sitzen am Fluss Mapocho, der die Slums von den Wohnvierteln der Wohlhabenden trennt. Gonzalo kommt aus einer dieser wohlhabenden chilenischen Familien. Der sozial engagierte Pater McEnroe brachte eines Tages Pedro mit anderen Jungen aus den Armenvierteln in Gonzalos Klasse der St. Patricks Schule – sie lernten sich kennen, wurden Freunde . Der Putsch von General Pinochet gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende bedeutet auch das Ende dieser Freundschaft. Regisseur Andrés Wood erzählt seine Geschichte konsequent aus der Sichtweise des elfjährigen Gonzalo, der den politischen Umwälzungen in Chile 1973 verständnislos begegnet.
Konsequent aus Kinderperspektive
Wer einen Film über den Putsch gegen Allende erwartet, wird von diesem Film enttäuscht. Kinder interessieren sich meistens nicht besonders für Politik – sie nehmen die Welt so, wie sie ist. Eher beiläufig sieht Gonzalo im Fernsehen Demonstrationen rechter und linker Gruppen, auch die Bilder von Allendes Tod kann er nicht einordnen. Andrés Wood lässt die Zuschauenden nicht mehr wissen als den manchmal noch recht kindlich wirkenden Gonzalo. Damit konzentriert sich die Geschichte allein auf das, was für Gonzalo wirklich wichtig ist: sein gleichförmiger, nicht ganz durchschaubarer Alltag zu Hause und die Freundschaft mit Pedro und Silvana. Die Folgen des Putsches bekommt freilich auch Gonzalo zu spüren: Pedro wird mit den anderen Slumbewohnern vertrieben, Gonzalo findet ihn nicht mehr.
Symbolhafte Figuren
Das, was die beiden Jungen erleben, lässt sich als ganz konkrete Ereignisse sehen, oder auch als Parabel deuten, in der die Hauptfiguren eine Symbolfunktion haben. Gonzalo und Pedro stehen dann für die Klassen, die Anfang der 1970er-Jahre in Chile um die Macht ringen: Gonzalo für die bürgerlichen und besitzenden Schichten, Pedro für die Schicht der Arbeiter und Besitzlosen. Auch die anderen größeren Rollen im Film stehen "stellvertretend" für gesellschaftliche Zusammenhänge: Gonzalos attraktive Mutter Maria Luisa trifft sich öfters mit ihrem Liebhaber, einem seriös wirkenden Herrn. Die Assoziation liegt nahe, dass er für das Militär steht. Silvana, das Mädchen aus den Slums, das sowohl Gonzalo als auch Pedro küsst, steht für das unschuldige, genießende Leben, das möglich scheint, solange die gesellschaftlichen Konflikte nicht unterdrückt, sondern angegangen werden. Schulleiter Pater McEnroe verkörpert die engagierten gesellschaftlichen Kräfte, die versuchen, die Spaltung der Gesellschaft durch soziale Reformen zu überwinden.
Starre Strukturen
In Erinnerung bleiben lange Kamera-Einstellungen auf Gesichter, vor allem auf Gonzalos Gesicht. Mit ihm schauen wir auf seine Familie: die ältere Schwester, die nur ihren Freund im Kopf hat; die attraktive Mutter, die Gonzalo immer wieder umarmt und in der Rolle des unmündigen Kindes halten will; der Vater, der offenbar nicht ahnt, dass ihn seine Frau betrügt, oder sein Wissen für sich behält. Gonzalo geht lieber zu Pedro, auch wenn dessen Zuhause klein und die Toilette schmutzig ist. Mit Pedro, Silvana und deren Vater zieht Gonzalo los und hilft ihnen, unterschiedliche Fahnen an Demonstrierende zu verkaufen. Die einen verkaufen sie an die Rechten, die anderen an die Linken. Wie eine Vorahnung des drohenden Unheils wirkt ein zufälliges Treffen der beiden Jungen mit Pedros Vater, der von Pedros Mutter wieder einmal Geld holen will. Nichts wird sich ändern an den sozialen Verhältnissen, lautet dessen Prophezeiung: "In fünf Jahren wirst du auf der Universität studieren", sagt er zu Gonzalo, und zu Pedro gewandt: "Und du wirst seinem Vater die Toiletten putzen." In zehn Jahren werde Gonzalo Boss in der Firma seines Vater sein und Pedro immer noch die Toiletten putzen.
Hoffnung auf Veränderung
Bald darauf beendet der Militärputsch das sozialistische Experiment, das die soziale Ungerechtigkeit beseitigen wollte. Soldaten besetzen auch die St. Patricks-Schule, Pater McEnroe wird als Schulleiter abgesetzt. Es ist allein Pedro, der Zivilcourage zeigt: Sein Abschiedsgruss an McEnroe, im Angesicht auch der neuen Machthaber, ist ein Zeichen der Anerkennung, aber auch der Hoffnung. Als wenig später Soldaten bei einer Razzia in den Slums Silvana erschießen, steht Gonzalo fassungslos dabei. Er entkommt den Soldaten nur, weil ihn die teuren Turnschuhe als wohlhabend ausweisen. Wie Gonzalo allerdings mit all dem umgeht, was er erlebt, ist seinem Gesicht kaum anzusehen. Der Film versucht nicht, Gonzalos Gefühle in adäquate Bilder und Szenen zu "übersetzen". Umso mehr Raum bleibt den Zuschauenden, die Szenen mit eigener Fantasie zu füllen. Zu hoffen ist jedoch auf die Langzeitwirkung des Gedächtnisses: Gonzalo wird Pedro und Silvana nicht vergessen – so wie der Regisseur das soziale Experiment in der Schule, das er als kleiner Junge selbst erlebte, nicht vergessen hat. Wenn Gonzalo seine Erinnerung auch als Erwachsener bewahrt und nicht daran zerbricht, kann er sie für die Veränderung der Gesellschaft nutzen – falls ihn seine Umgebung bis dahin nicht korrumpiert hat.
Ein offenes Ende
Woods Film hat seine Stärken in den lebendig inszenierten, sehr anschaulichen Szenen des kindlichen Alltags. Das Ende bietet sicherlich Anlass zur Diskussion: Gonzalo reagiert auf das schreckliche Erlebnis des Todes von Silvana mit Rückzug. Offensichtlich hat er niemanden, mit dem er darüber sprechen kann, weder in seiner Familie, die offen die politische Rechte unterstützt, noch in der Schule, die zu alten hierarchischen Strukturen zurückkehrt. Auch Gonzalos Suche nach Pedro bleibt erfolglos. Das wirkt realistisch, denn Kinder haben auch in der Realität nur wenig Möglichkeiten, politisch aktiv zu werden. Das Filmende verzichtet zugleich konsequent auf die im Mainstream-Kino üblichen Zeichen, dass das "Böse" dereinst überwunden werde. Trotzdem wirkt es dramaturgisch nicht ganz befriedigend, denn der Schock nach der Ermordung Silvanas wird durch Gonzalos anschließende Fahrradfahrt nicht adäquat aufgelöst. So wirkt der Film wie eine noch nicht abgeschlossene Geschichte. Das entspricht wiederum der politischen Entwicklung Chiles seit dem Putsch 1973, deren Aufarbeitung ebenfalls noch nicht abgeschlossen ist.
Autor/in: Eckart Lottmann, 01.05.2005