Hintergrund
Häusliche Gewalt bei den Samburu
Der Film Die weisse Massai spielt in der hirtennomadisch lebenden Gesellschaft der Samburu im Norden Kenias. Dort hat ein Ehemann das Recht, seine Ehefrau zu schlagen und zu verprügeln. Warum ist das so, wie gehen die Frauen der Samburu damit um, und was kann das für uns in Mitteleuropa bedeuten?
Ethnografischer Hintergrund
Die Samburu züchten Rinder, Ziegen und Schafe, die sie mobil weiden. Traditionell gibt es keinen Häuptling, Entscheidungen werden durch den Rat älterer Männer gefällt. Im Rahmen eines komplexen Altersklassensystems absolvieren junge Männer eine etwa 14 Jahre dauernde Kriegerzeit. Rinder sind ökonomisch, sozial und rituell die Grundlage aller öffentlich relevanten (Austausch-)Beziehungen. Tiere werden patrilinear vererbt, die Wohnfolge ist patrilokal, das heißt, eine Frau zieht nach der Hochzeit zu ihrem Mann. Mit dem rituellen Schlachten des Hochzeitsbullens im Verlauf einer Heiratszeremonie erwirbt ein Mann neben dem Recht auf sexuellen Kontakt zu seiner Frau auch das Recht, sie schlagend und prügelnd zu bestrafen, wenn sie seiner Meinung nach ihren Pflichten nicht sorgfältig genug nachgekommen ist.
Analytischer Hintergrund
Das dualistische Weltbild der Samburu teilt natürliche, soziale und rituelle Räume beispielsweise ein in gut und schlecht, oben und unten, alt und jung, Mann und Frau. Wie in anderen Teilen der Welt beinhaltet diese Dichotomie auch bei den Samburu eine hierarchische Wertung. Diese Hierarchie sieht Männer gegenüber den Frauen als älter an. Physische Gewalt darf in dieser gerontokratischen Struktur, in der die Älteren auch die Macht haben, nur von oben nach unten erfolgen; umgekehrt würde die kosmische Ordnung gestört: Unglücke wie Krankheiten oder Tod in der Familie wären die Folge. Doch auch wenn Männer öffentlich als höherstehend gelten, sind beide Geschlechter sozial und ökonomisch aufeinander angewiesen. Im Alltag leben und arbeiten Männer und Frauen in der Regel getrennt. Der Raum von Frauen ist tagsüber – außer wenn sie Wasser oder Feuerholz holen – die Siedlung. Männer kümmern sich um die mobil geweideten Herden und treffen sich, um aktuelle Fragen und Probleme zu klären.
Standpunkte von Frauen zu häuslicher Gewalt
Obwohl Frauen sich aus den oben genannten Gründen nicht physisch gegen einen prügelnden Ehemann zur Wehr setzen dürfen, schweigen oder verstummen sie nicht oder sind die sprichwörtliche "Treppe hinuntergefallen" wie viele Frauen aus westlichen Gesellschaften. Tagsüber, in Abwesenheit der Männer, wird jeder Vorfall intensiv besprochen und eine jeweilig Betroffene kann ihre Wut äußern. Wütend sind die Frauen jedoch in der Regel über den in ihren Augen oft unerheblichen Grund für die Misshandlung. Das grundsätzliche Recht von Männern auf physische Bestrafung erkennen auch die Frauen der Samburu an, denn es ist für sie in einen Sinnzusammenhang gebettet: Die gerontokratische Gesellschaftsordnung ist auch für sie gelebte Wahrheit. Meint eine Frau jedoch, die Gewalt ihres Mannes erfolge zu häufig, zu willkürlich und zu unangemessen, kann sie sich bei den Ältesten der Familie beschweren oder zu ihrer Familie väterlicherseits flüchten.
Verschiedene Wortbedeutungen
Wenn über Gewalt und Gewalterfahrung gesprochen wird, darf der jeweilige historische und kulturelle Kontext nicht außer Acht gelassen werden. Was wird als Gewalt bezeichnet, und wer spricht von Gewalt? Bei den Samburu gibt es kein Wort synonym für Gewalt, für jede Situation werden jeweilig spezifische Ausdrücke verwendet. Männer und Frauen benutzen in Bezug auf einen gleichen häuslichen Konflikt oft verschiedene Wörter. Des weiteren gibt es in Samburu eine ausgeprägte Tugend der Schmerzverachtung: Schmerzen ertragen zu können ist mit hohem Prestige behaftet. Das gilt für kleinere Blessuren des Alltags genauso wie für schwere Wunden, die Krieger bei Kämpfen oder Viehdiebstählen erleiden können.
Initiationsriten
Schmerzen klaglos zu ertragen ist ein wichtiger Teil der Kindererziehung der Samburu. Während des traditionellen Ziehens der unteren Schneidezähne und des Durchbohrens und Weitens der Ohrläppchen sollten Kinder nicht weinen. Und für einen Vater und die ganze Familie gilt es als Schmach und Schande, wenn ein Junge bei der Beschneidung im Rahmen der Initiationszeremonie auch nur mit der Wimper zuckt. Mädchen dürfen während der Beschneidung zwar weinen, doch wird auch von ihnen mit Hochachtung gesprochen, wenn sie die Operation klaglos erdulden. Das Versehren des Körpers während der Initiation markiert den Übergang vom Kind zum Erwachsenen, Unbeschnittene gelten als Kinder. Die Verletzung ist für die Initiierten in einen gesellschaftlichen und kosmischen Sinnzusammenhang gebettet. Ihre physische Integrität wird nicht angegriffen, sondern im Gegenteil erst geschaffen.
Vergleich zur europäischen Kultur
Körperliche Gewalt gilt bei uns als das absichtliche Verletzen physischer Integrität. Diese Definition ist nicht direkt in das Wertesystem der Samburu übertragbar, wie in Bezug auf die Praxis der Mädchen-Beschneidung besonders deutlich wird. Der Umgang mit Gewalt in der Ehe bei den Samburu kann für uns nicht beispielhaft sein. Doch dass die Würde einer Frau nach der Vorstellung der Samburu weiterhin gewahrt bleibt und dort nicht gefährdet ist, selbst wenn sie häusliche Gewalt erleidet, dass das für sie nicht mit Scham und Schande verbunden ist und die Frauen sich im Zusammenhang mit erlebter Gewalt meist auch sehr solidarisch verhalten, könnte uns als Vorbild dienen. Hinweis: Die Autorin hat über dieses Thema an der FU Berlin promoviert. Ott, Elisabeth: Nkanyit und Gewalt. Häusliche Gewalt in Samburu zwischen Tradition und Willkür, Berlin 2004 (Weißensee Verlag)
www.weissensee-verlag.de/autoren/ott.htm
Autor/in: Elisabeth Ott, 21.09.2006