Das Interview führte Holger Twele.
Hubertus Siegert (rechts) bei den Dreharbeiten
Wie kam es zu diesem Projekt?
Ich kenne die Lehrerin der gefilmten Schulklasse schon seit 1995. Damals haben wir an vielen Schulen in Berlin ein Casting gemacht, um Kinder-Darsteller für einen kleinen Spielfilm zu finden. Die entdeckten wir dann fast alle in einer Klasse der Fläming-Grundschule, bei Gudrun Haase in ihrer damaligen Integrations-Klasse. Seitdem gab es die Option, einen Kinofilm über dieses Klassenmodell zu machen, es fehlte nur noch der konkrete Anlass. Ende November 2003, habe ich Frau Haase privat wiedergetroffen, um mit ihr über die Einschulung meines Sohnes zu sprechen. An diesem Abend hat sie viel von ihrer Klasse Elfjähriger erzählt und irgendwann habe ich sie gefragt, ob sie es riskiert, dass ich einen beobachtenden Film über ihre 5d drehe. Sie hat sofort zugesagt.
Warum die Klasse 5d der Fläming-Grundschule?
Soweit mir bekannt ist, gibt es nur an der Berliner Fläming-Grundschule diese hohe, 25-prozentige Mischung an behinderten Schülern in Regelklassen. Die Modellklasse ist seit Gründung der Schule 1975 stetig die vierte, die d-Klasse eines Jahrgangs. Wir haben in allen sechs Jahrgängen Probeaufnahmen der d-Klassen gemacht und uns dann doch für die Elfjährigen von Frau Haase entschieden, ein ideales Alter, denn die Schüler sind schon sehr bewusst, aber vor ihrer Pubertät noch wirklich Kinder.
Wie haben Sie die Eltern und Schüler/innen zur Mitarbeit bewegen können?
Die Genehmigung der Beteiligten ist bei einem beobachtenden Dokumentarfilm immer ein Problem: Solche Projekte können selbst noch beim Endschnitt am Widerstand der Beteiligten scheitern. Doch Offenheit ist die größte List. Ich habe möglichst alles gleich offengelegt. Insbesondere warnte ich die Eltern, dass es für ihre Kinder heikel werden könnte, wenn sie sich auf der Leinwand öffentlich sehen und sich damit auseinander setzen müssen, wie sie rüberkommen. Und es war tatsächlich hinterher nötig, dass ich mit den Kindern über ihre Leinwanddarstellung gesprochen habe. Schon aus Eigeninteresse habe ich das gemacht, denn ich hatte den Kindern ein Vetorecht gegen die Verwendung jeder Aufnahme versprochen – es gab dann auch längere Auseinandersetzungen zu einzelnen Szenen und Sätzen. Mit dieser Offenheit wurden auch die Eltern überzeugt, denn die hatten mitunter auch andere Vorstellungen von ihrem Kind, als der Film zeigt.
Sie haben sich im Film nur auf wenige Schüler/innen konzentriert.
Dass nur fünf Kinder im Mittelpunkt stehen konnten, war eigentlich jedem sofort klar, auch den Kindern. Aber wer es sein würde, habe ich nicht gesagt – ich wusste es selbst nicht. In meinem Exposé habe ich zwar behauptet, ich hätte schon meine Protagonisten, eine Behauptung, die man beim Dokumentarfilm einfach machen muss, denn die Finanziers des 220.000 Euro-Projekts wollen vorab wissen, auf was sie sich einlassen. Aber bei den Dreharbeiten musste ich den Zufall viel ernster nehmen als das Skript. Zunächst filmten wir spontan, was im Unterricht oder vorher und nachher passierte. Über die Zeit grenzt sich eine solche Arbeit dann selbst ein. Durch einen glücklichen Zufall haben wir uns schon die ersten Tage auf einen Vierer-Tisch konzentriert, von dem gleich drei Kinder – Luca, Marvin und Christian – sich als geeignete Protagonisten herausstellten. Von dieser Ausgangsbasis her wurde erst Monate später klar, dass Johanna und Dennis die Protagonisten ergänzen müssten.
Und wie haben die Schüler/innen reagiert, die im Film nicht im Mittelpunkt standen?
Sie konnten zunächst nicht wissen, ob sie im fertigen Film sein würden, denn sie wurden ständig mitgefilmt. Später, als sie die Auswahl begriffen haben, waren einige enttäuscht, aber auch erleichtert, denn sie sahen dann, was es bedeutet, als Protagonist auch angreifbar zu sein. Alle Kinder haben überraschend sentimental auf den fertigen Film reagiert. Sie waren von der Stimmung des Films und ihrer eigenen Ausstrahlung als Klasse sehr beeindruckt, sie fanden, dass sie "damals" bei den Dreharbeiten "so irre aktiv" gewesen seien. Das Erstaunliche war, dass die Kinder ihre Gegenwart in der Klasse nach dem Film als weniger intensiv, weniger aktiv empfanden – wobei mir die Klassenlehrerin bestätigte, dass sich seitdem nichts wesentlich geändert habe. Die Ausdrucksmöglichkeiten eines Kinofilms scheinen ein weit eindrucksvolleres Bild ihrer damaligen Welt geprägt zu haben, als es die Bilder ihrer eigenen unmittelbaren Erinnerung vermögen.
Diente Ihnen der Film Sein und Haben von Nicolas Philibert als Vorbild?
Der Erfolg seines Films hat gezeigt, dass es für reale Kinder in einer realen Schule ein Kinopublikum gibt. Das half mir bei der Finanzierung und dafür muss ich Philibert danken. Andererseits lag die Latte nun sehr hoch, denn Philibert hatte mit seinem Film in Frankreich und international einen gigantischen Erfolg, ich war also sofort in der Defensive. Ich habe aber von Anfang an einen anderen Blickwinkel auf Kinder und Lehrer angestrebt als er. Ihm kam es, scheint mir, auf die Überzeugungskraft seines Helden, des Lehrers an. Ich wollte insbesondere die Perspektive der Kinder konsequent einhalten: möglichst ihre Standfestigkeit, Zweifel und Gefühle verfolgen. Ab einer gewissen Nähe zu den Kindern werden zwangsläufig die Widersprüche sichtbar, die die Wirksamkeit und Möglichkeiten von Pädagogik betreffen – es klappt eben nicht immer, wie die Lehrerin es sich vorstellt und nicht allzu selten klappt es trotz der Lehrerin. Ich habe mir
Klassenleben nie als Replik auf Philibert gedacht, aber der Film sieht jetzt nach einer skeptischen Antwort auf ihn aus.
Hubertus Siegert bei den Dreharbeiten
Warum erfahren die Zuschauenden kaum etwas über das Modell der Fläming-Grundschule?
Ich habe diesen Dokumentarfilm nicht speziell für Pädagogen, sondern vor allem für ein Kinopublikum gemacht. Dieses sucht zunächst ein audiovisuelles Erlebnis. Ich vermute auch, dass es nicht belehrt werden möchte, und wenn es sich für ein Schulmodell interessiert, dann erst, nachdem überhaupt klar geworden ist, wo die Herausforderung für ein solches Modell liegt. Die 90 Minuten eines Kinodokumentarfilms brauche ich, um die Relevanz eines Themas zu entfalten. Meine Zielgruppe sind daher alle, die mit Kindern zu tun haben, besonders die Eltern in Deutschland, die Kinder in der Schule haben und sich fragen, was da passiert, wie sich Unterricht für Kinder anfühlt. Normalerweise kommen Eltern nicht in den Unterricht und wissen auch gar nicht aus eigener Anschauung, was dort heute vor sich geht. Da fand ich es sinnvoll, einen emotionalen Raum für die Auseinandersetzung mit Pädagogik zu öffnen, wobei zwei Fragen besonders spannend sind: Wie autoritär muss ein Lehrer eigentlich sein? Und was für Möglichkeiten bietet die Integration als Reformmodell? Mich interessierte der konkrete Blick in eine Klasse nicht zuletzt vor dem Hintergrund der viel zu abstrakten Diskussion um die PISA-Studie.