Hintergrund
Identitätskonstruktion - der Kampf um das Selbstbild
Ungefähr im 18. Lebensmonat entdecken Kleinkinder ihr Abbild im Spiegel. Sie beginnen, sich bewusst zu werden, dass sie ihren eigenen Körper sehen, wie er sich bewegt, wie das eigene Gesicht Grimassen schneidet. Mütter und Väter freuen sich mit dem Kind über seine Entdeckung und bestätigen ihm: das bist du. Der erste Schritt zur Identitätsbildung ist getan, so der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan.
Identität als steter Prozess
Nach Auffassung des amerikanischen Sozialpsychologen George Herbert Mead werden Erinnerungen und Erfahrungen auf einer "Schnur der Identität" organisiert, die eine zeitliche Einordnung in den Lebenslauf des Individuums ermöglicht. Identität unterteilt er in die Konzepte "I" (personale Identität), "Me" (soziale Identität) und "Self" (Ich-Identität, die sich aus "I" und "Me" zusammensetzt). Der Mensch stellt Identität her, indem er sich mit etwas "identifiziert". Aus diesem spielerischen Rollenverhalten, dem Wechsel verschiedener Sichtweisen, entsteht mit der Zeit ein Selbstkonzept, das Selbstwertgefühl und eine innere Kontrollinstanz, die alles im Gleichgewicht hält. Das Zusammenspiel nennt der Psychologe Hans-Peter Frey "Identität" (Hans-Peter Frey/Karl Haußer: Identität, Stuttgart 1987).
Patchwork-Identitäten
Für Jugendliche in den westlichen Gesellschaften hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die Phase des Erwachsenwerdens ausgedehnt. Der Übergang ins Berufsleben zieht sich aufgrund von Ausbildung und Studium in die Länge und ist zunehmend von Unsicherheit geprägt. Einen geraden Weg von der Herkunftsfamilie zur Gründung einer eigenen Familie gibt es nicht mehr. An Bedeutung zugenommen hat die soziale Anerkennung in der Gleichaltrigengruppe. Jugendliche müssen sich aus einer Vielzahl an Angeboten, die oftmals medial vermittelt werden, ihr eigenes Selbstbild "basteln". Das Ergebnis ist eine Bricolage verschiedenster Einflüsse, die durchaus auch widersprüchlich sein können und zu einer Patchwork-Identität führen. Vor allem aber wird Identität mittlerweile – trotz des Namens – nicht mehr als unveränderliche, auf Dauer gestellte "Einheit" gesehen, die womöglich erst noch "gefunden" werden muss: sie wird aktiv konstruiert, ist vielfältig, flexibel und verändert sich mit neuen Erfahrungen. Allerdings übt diese Freiheit in der Identitätskonstruktion auch neuen Druck aus: Jede/r scheint nun selbst verantwortlich zu sein für ihre/seine eigene Identität, die nun eben nicht mehr festgelegt ist. Es entsteht der Zwang zum Treffen einer Wahl. Die Shell-Jugendstudie (2003) kommt zu dem Schluss, dass die Jugendlichen von heute "eine breite Palette von sozialen und intellektuellen Kompetenzen (brauchen) und die Fähigkeit, ihr eigenes Lebenskonzept und ihre Identität" auf die neuen Bedingungen einzustellen (Klaus Hurrelmann: Eine Generation von Egotaktikern, in Shell-Jugendstudie 2003).
Rollen-Identität
Natürlich bestimmt auch die Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter den Prozess der Identitätskonstruktion. Zwar sind die Vorstellungen von der "Rolle des Mannes" und der "Rolle der Frau" nicht mehr so eng wie noch vor zwei oder drei Generationen. Aber gesellschaftliche Grundvorstellungen über das, was "typisch männlich" und "typisch weiblich" ist, existieren weiter. Die Shell-Studie beschreibt das männliche Konzept mit den Begriffen Selbstbehauptung, Abgrenzung gegenüber anderen, größtmögliche Ausweitung des eigenen Machtbereichs und Selbstkontrolle. Junge Frauen orientieren sich im Vergleich dazu an einem Rollenbild, das durch Emotionalität, die Pflege von Beziehungen und sozialen Netzwerken sowie Zusammengehörigkeitsgefühle definiert ist.
Kulturelle Identität im Zeitalter der Globalisierung
In einer Welt, die für Menschen aller Altersgruppen im Vergleich zu früher nicht mehr nach streng kontrollierten sozialen Vorgaben geregelt ist, die sich "entstrukturiert und individualisiert" (Hurrelmann) hat, gibt es keine eindeutigen Muster für den Erwerb sozialer oder kultureller Identitäten mehr. Ein Taxifahrer kann Außenminister werden, eine Philosophiestudentin einen Coffee-Shop eröffnen. Eine "deutsche Identität" spielt im Zeitalter der Globalisierung keine Rolle mehr. Kulturelle Konzepte reduzieren sich auf Folklore, man geht bayerisch feiern, türkisch essen und brasilianisch tanzen.
Gender-Troubles
Auch die geschlechtliche Identität verliert ihre Grenzen. Die Gender-Theorien gehen von einem sozial erlernten und damit zum großen Teil erworbenen geschlechtlichen Rollenverhalten aus. "Für alle, die ihr zugewiesenes Geschlecht nicht als bindend empfinden", gibt es im Internet die Vereinigung "Transgender-Net". Muster von männlichen Identitäten changieren in kulturell durchmischten Gesellschaften zwischen Machismo und modischer Metrosexualität. Weibliche Rollenmuster werden von manchen Einwandererfamilien radikal anders definiert als von der westlichen Gesellschaft, in der sie leben – teilweise mit tödlichen Folgen.
Selbstbehauptung
Die Konstruktion einer Identität, eines Selbstkonzepts, nach dem Mann oder Frau leben möchte und leben kann, wird in einer Gesellschaft, in der verschiedene Kulturen aufeinander treffen, noch schwieriger als sie ohnehin schon ist. Dass der Kampf um die Selbstdefinition und die Selbstbehauptung mit friedlichen Mitteln ausgetragen wird, bleibt eine der wesentlichen Errungenschaften der Demokratie.
Autor/in: Volker Thomas, 21.09.2006