Das Glück, zum Greifen nah
Das Leben kann so schön sein, wenn man zum ersten Mal richtig verliebt ist: gemeinsam ins Kino gehen, Popcorn futtern, sich schüchtern küssen. Chloe und Jed sind Anfang 20, geistig ein wenig zurückgeblieben und kennen sich von der gemeinsamen Arbeit in einer Behindertenwerkstatt. Als Jed es schließlich wagt, seiner Freundin einen Heiratsantrag zu machen, den diese mit Freuden annimmt, scheint das Glück für einen winzigen Augenblick perfekt zu sein. Doch dann wird ausgerechnet Chloes geliebte Katze Catey überfahren – und Jed ist nicht ganz unschuldig daran. Vor Kummer zutiefst deprimiert, weigert sich Chloe zunächst, Jed wiederzusehen. Doch dieser lässt nicht locker und verspricht Chloe, einen neuen "Sinn des Lebens" für sie zu finden, den sie zuvor allein in ihrer Katze gesehen hat. Mit kindlich-naiver Beharrlichkeit, einfältig, langsam, aber von Rückschlägen unbeirrt, macht sich Jed sogleich auf die Suche. Dabei kann er auf die Solidarität, das Einfühlungsvermögen und den Humor seiner ebenfalls behinderten Freunde bauen.
Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens
In
Niceland erzählt der isländische Regisseur Fridrik Thor Fridriksson von einem, der auszog, den "Sinn des Lebens" zu suchen. Dabei geht es tatsächlich um Leben und Tod: Wenn Jed keinen Erfolg hat, wird Chloe womöglich sterben, denn ihr Lebenswille ist gebrochen und täglich geht es ihr schlechter. Aber wie und wo soll Jed den Sinn des Lebens finden? "Du musst andere fragen", rät ihm sein bester Freund Alex, ein junger Mannes mit Down-Syndrom. Doch weder die Kollegen/innen in der Werkstatt noch sein Vater wissen darauf eine Antwort. Schließlich wird Jed in einer Fernsehsendung auf den Schrotthändler Max aufmerksam, der vorgibt, gefunden zu haben, wonach er selbst so dringend sucht. Noch am gleichen Abend fährt Jed hinaus zu dessen Schrottplatz, nistet sich in einem ausrangierten Caravan ein und versucht, dem schroffen Max sein Geheimnis zu entlocken. Dies ist jedoch alles andere als einfach.
Die Suche auf dem Schrottplatz
Der einsame, unberechenbare und nicht ganz ungefährliche Schrotthändler wehrt sich zunächst vehement gegen räumliche und emotionale Nähe zu Jed. Langsam jedoch entwickelt sich eine Vertrautheit zwischen den ungleichen Männern. Dennoch lehnt es Max weiterhin ab, Jed über den "Sinn des Lebens" aufzuklären: "Es gibt eben Dinge, die zu persönlich sind, um mit anderen darüber zu sprechen". Max schweigt selbst dann noch, als Chloe im Krankenhaus ins Koma fällt. Jed erkennt schließlich, dass vom Schrotthändler keine Hilfe zu erwarten ist, dieser vielmehr selbst verzweifelt um sein inneres Gleichgewicht und ums psychische Überleben kämpft. Max ist schwer traumatisiert, seit durch sein Verschulden bei einem Unfall Frau und Tochter ums Leben kamen. Am Ende hat Jed begriffen, dass jeder Mensch seinen ganz eigenen Weg zum Glück entdecken muss.
Graue Alltagsroutine mit Farbfernseher
In der Figur des naiv verträumten Jed, der mit einer simplen Antwort den Lauf der Dinge verändern möchte, zeigt
Niceland einen starken jungen Menschen, der existenziellen Fragen auf den Grund geht und dabei mutig äußere Widerstände und eigene Ängste überwindet. Dass es sich dabei um einen Behinderten handelt, spielt nur insofern eine Rolle, als es den positiven Kontrast zur rein funktional ausgerichteten Welt der Erwachsenen hervorhebt, zumal bei ihm die gängige Trennung von Gefühl und Verstand weniger stark ausgeprägt scheint. Während Max durch den schmerzlichen Verlust seiner Familie am Leben verzweifelt, haben die meisten Erwachsenen ihre tieferen Sehnsüchte längst in ihrer Alltagsroutine begraben. Als sich Jeds Vater nach dem Auszug seines Sohnes vom Fernsehsessel erhebt und zu einem abendlichen Spaziergang aufrafft, erblickt er durch die erleuchteten Fenster des Wohngebiets das immer gleiche Bild: junge und alte Paare, die stumm auf den Fernseher starren. "Warum willst Du unbedingt heiraten?", fragt Max einmal Jed. "Die Ehe ist doch nur ein ständiger Kampf und ein langsamer Tod auf der Couch."
Ein philosophisches Märchen
Niceland ist ein philosophisches Märchen mit dramatischen Zuspitzungen und einem wundervollen Humor. Mit Jed ziehen wir durch bisweilen unwirkliche Landschaften aus sterilen Einfamilienhäusern und gigantischen Schrotttürmen, um uns mit dem einfältigen Märchenhelden an das existenzielle Rätsel der Menschen heranzutasten: Warum leben wir? Was macht einen Menschen zum Menschen? Im Gegensatz zu Fridrikssons erstem Film Children of Nature (1991) der den ländlich rauen Charakter Islands betont, kommt der imposanten Natur der Insel dieses Mal keine gesonderte Bedeutung für die Geschichte zu. In einem kleinstädtischen Niemandsland ("Nice Iceland") angesiedelt und in Englisch gedreht, erhebt Fridrikssons neuer Film nicht nur thematisch den Anspruch auf Universalität. Dabei setzt er dramaturgisch auf einen langsamen eindringlichen Erzählfluss, auf ruhige
Kamerabewegungen und die Wiederholung von Situationen, Sätzen oder Motiven. Bestechend wirken die einprägsamen, melancholischen Bilder, die je nach Stimmungslage in natürliches oder künstliches Licht, bisweilen aber in beängstigende Dunkelheit getaucht werden. Unverkrampft, feinfühlig und voller Respekt setzt der Regisseur geistig unterschiedlich stark behinderte Menschen in ihrer ganzen Würde in Szene. Weil er deren Behinderung nie instrumentalisiert, um beispielsweise Mitleid zu erzeugen, gelingt es ihm, bei den Zuschauenden ein tieferes Verständnis für Menschen zu entwickeln, die geistig ein wenig von der Norm abweichen.
Autor/in: Uta Beth, 08.12.2006