Keine Zeit für Heldentum lautete der programmatische (deutsche) Titel eines Films mit Henry Fonda aus den 50er Jahren. Im reifen Alter von 60 hat Henry Fondas Sohn Peter nun anscheinend die rebellische Phase seines Lebens hinter sich und widmet sich endlich den Rollen, die schon sein Vater im amerikanischen Kino der 40er und 50er Jahre so eindrucksvoll ausfüllte. In
Ulee's Gold von Victor Nunez hat Peter Fonda einen bemerkenswerten Auftritt in einer Anti-Helden-Rolle, die so gar nichts mehr mit dem Image des Peter Fonda aus der
Easy Rider-Zeit zu tun hat.
Ulee Jackson lebt mit seinen beiden Enkelinnen in einfachen Verhältnissen in Nord-Florida. In den Sümpfen von Tupelo betreibt der seit Jahren verwitwete Ulee eine kleine Bienenzucht, arbeitet meist allein, scheut den Kontakt zu Nachbarn und anderen Dorfbewohnern. Auch seine Rolle als Großvater füllt er zwar gewissenhaft, aber höchst wortkarg aus: Er kümmert sich um seine beiden halbwüchsigen Enkeltöchter, doch dem pubertären Verhalten der Älteren steht er hilflos gegenüber. So führt Ulee fast das Leben eines Einsiedlers, introvertiert und zurückgezogen. Regisseur Victor Nunez gestattet dem Zuschauer nur wenige Hinweise auf die Vergangenheit dieses Eigenbrötlers. Ein Foto aus Vietnam etwa deutet an, dass Ulee auch einmal ganz anders gelebt haben muss und er weit zurückliegende Ereignisse möglicherweise noch nicht verarbeitet hat.
Ein Anruf des nach einem Bankraub im Gefängnis sitzenden Sohnes Jimmy reißt Ulee dann heraus aus dem monotonen Tagesrhythmus und bringt die (Film-)Geschichte in Gang. Jimmys Frau Helen ist in Schwierigkeiten. Ulee fährt nach Orlando und nimmt die drogenabhängige Schwiegertochter mit nach Hause. Deren Verhältnis zu ihren Töchtern ist nach langer Trennung denkbar schwierig, hinzu kommen die qualvollen Begleiterscheinungen des Drogenentzuges. Zur Seite steht UIee nur die selbstlose Nachbarin und Krankenschwester Connie. Die langsam auftauenden familiären Bindungen werden von außen bedroht. Zwei ehemalige Kumpane des Sohnes fordern das von Jimmy versteckte Geld aus dem Bankraub. Ulee sieht sich plötzlich von mehreren Seiten gefordert: Er muss sich um die hilflose Schwiegertochter und die verunsicherten Enkeltöchter kümmern, die Familie vor der tätlichen Bedrohung der beiden Kriminellen schützen und nicht zuletzt eigene, lange verschüttete Emotionen verarbeiten. Ulee wandelt sich unter diesem Druck vom reinen Ernährer der Enkeltöchter zu einem Mann, der sich fast väterlich um die beiden Mädchen kümmert und die Schwiegertochter in die Familie reintegriert, zunächst rein physisch (indem der von Drogen gezeichnete Körper gepflegt wird), später auch über eine emotionale Bindung. Beim nächsten gemeinsamen Besuch des Sohnes im Gefängnis ist die versprengte Familie wenigstens innerlich wieder vereint. Die vom Regisseur nur zaghaft angedeutete Beziehung Ulees zu Connie sorgt schließlich für eine 'komplette' Familienstruktur. Ulee hat sich vom introvertierten Eigenbrötler zum sozial und verantwortungsvoll handelnden Familien-Oberhaupt gewandelt – wenn auch diese Entwicklung durch die von außen auferlegten Zwänge nicht ganz freiwillig geschah.
Was sich bei der Beschreibung von Film-Handlung und Personenkonstellation wie ein Hollywood-Melodram liest, wird unter der Regie von Victor Nunez zur behutsamen Sozial- und Charakterstudie. Drehbuch und Inszenierung verzichten auf alle denkbaren melodramatischen Effekte, Actionelemente werden nur am Rande eingesetzt. Die Entwicklung Ulees vom passiven zum aktiven Protagonisten wird ohne jegliche heroische Ausschmückung beschrieben und hat wenig gemein mit den üblichen Versatzstücken typischer Hollywood-Familienfilme. Ulee verzichtet bei der Lösung seiner Probleme auch ganz bewusst auf den Einsatz von Gewalt: eine pazifistische Haltung, die sich möglicherweise aus seinen Vietnam-Erfahrungen erklären lässt. Der Regisseur präsentiert auch kein reines Happy-End, und er nähert sich beispielsweise dem Thema Arbeit mit fast dokumentarischem Duktus; in langsamen und konzentrierten Bildfolgen wird die Tätigkeit des Imkers geschildert. Der Zuschauer erfährt auf diese Weise viel über die Person Ulee, sein Leben und seine Einstellung zu seinen Mitmenschen. Nunez nimmt sich Zeit für die Beschreibung seiner Protagonisten, ein im heutigen Hollywood nur noch selten anzutreffendes Phänomen. Dadurch werden die Entscheidungen des Protagonisten nachvollziehbar, erscheinen psychologisch glaubwürdig. Ausgefallene Kameraperspektiven, schnelle Schnittfolgen oder die in Hollywood so gerne bemühte, aufdringliche "Hintergrund"-Musik sucht man in
Ulee's Gold vergeblich. Auch metaphorische Anspielungen, wie die aus der Mythologie übernommenen Namen der Protagonisten oder symbolische Bezüge zur Arbeit des Imkers überfrachten den Film nicht mit Bedeutung. Regisseur Nunez stellt die Form in den Dienst seiner Geschichte, ohne dass sein Film dabei langweilig wirken würde – im Gegenteil: Der an einigen Stellen fast meditative filmische Stil und der ruhige Erzählrhythmus unterstützen in jeder Einstellung die Glaubwürdigkeit der Charaktere und die Grundaussagen des Films.
Autor/in: Joachim Kürten, 01.05.1998