Schöne neue Welt?
Bis zum Anfang des nächsten Jahrtausends wollen Wissenschaftler die Abfolge sämtlicher Bausteine des menschlichen Erbguts entschlüsselt haben. Sind wir dann für jeden, der Einblick in diese Daten bekommt, ein offenes Buch? Können wir gar Sätze oder ganze Kapitel, die uns nicht gefallen, bei unseren Nachkommen umschreiben?
Unaufhörlich entdecken Wissenschaftler Gene, die an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind. Der nächste Schritt, den sie anstreben, ist die Gentherapie, also die Heilung einer Krankheit, indem man ein defektes Gen durch ein funktionsfähiges ersetzt. Sie funktioniert jedoch noch in keinem einzigen Fall, selbst nicht bei Krankheiten, die auf einem einzigen Fehler im Erbgut beruhen. Ursache der meisten Erkrankungen sind aber unterschiedliche Gendefekte und/oder eine Vielzahl von äußeren Einflüssen, vom Verhalten gar nicht erst zu reden. Selbst der Film Gattaca verkündet ganz richtig: "Es gibt kein Gen für menschlichen Pioniergeist." Die Vielzahl der Einflüsse und Quervernetzungen verringert die Erfolgsaussichten eines Eingriffs in das Erbmaterial ganz erheblich und macht sie in vielen Fällen zweifelhaft.
Außerdem stellt sich die Frage: Wie sieht er aus, der "perfekte Mensch", der in Gattaca geschaffen werden soll? Experten wissen längst: Es gibt nicht die beste genetische Ausstattung. Einheitlich perfektionierte Menschen befänden sich evolutionär in einer Sackgasse. Die Stärke der Menschheit – und das gilt auch für andere Arten von Lebewesen – liegt in ihrer genetischen Vielfalt. Nur so können sie sich an veränderte Umweltbedingungen, Krankheitserreger usw. anpassen. Wie man inzwischen weiß, haben oder hatten selbst Krankheitsgene manchmal ihre Berechtigung. Das Gen für Sichelzellenanämie schützt beispielsweise vor Malaria, und dasjenige für Mukoviszidose erleichterte das Überleben bei schweren Durchfallerkrankungen. Das 'Herumbasteln' an Genen ist also mit vielen Schwierigkeiten behaftet. Was man schon kann, ist Embryonen mit unerwünschten Eigenschaften 'aussortieren'. Derzeit sucht man mit vorgeburtlichen (pränatalen) Gentests nach Erbanlagen für schwere Krankheiten, aber prinzipiell kann man für jedes Gen, das man kennt, auch einen Test entwickeln. Hat man das Ergebnis, folgt gewöhnlich die schwierige Entscheidung: Abtreibung – ja oder nein? Möglich ist auch, eine Eizelle künstlich zu befruchten, das Produkt zu testen und anschließend in den Mutterleib einzupflanzen. Diese so genannte Präimplantations-Diagnostik ist in Deutschland verboten, in einigen europäischen Ländern und den USA jedoch erlaubt
In jedem Fall lautet die zentrale Frage: Welche Tests wollen wir? Wollen wir nur schwere Krankheiten "vermeiden" oder aber durch eine Art Qualitätskontrolle Kinder mit möglichst günstigen Eigenschaften erzeugen? So befürchten bereits zwergwüchsige Menschen in den USA, dass die Ergebnisse genetischer Tests dazu benutzt werden, die entsprechenden Schwangerschaften abzubrechen und damit Menschen wie ihnen die Lebensmöglichkeit zu nehmen. Anders als viele meinen, wird nicht alles gemacht, was machbar ist, beispielsweise in der Geschlechtsbestimmung. Bei vorgeburtlichen Untersuchungen kann man fast nebenbei feststellen, ob das Kind ein Mädchen oder ein Junge wird. Es gibt hier zu Lande jedoch einen ethischen Konsens, dass das Geschlecht eines Kindes kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch sein darf, wie beispielsweise in Ländern, in denen Familien mit Töchtern immer noch mit erheblichen Benachteiligungen rechnen müssen. – Der Regisseur Andrew Niccol spricht mit seiner Frage, wo wir die Grenzen ziehen wollen, ein sehr aktuelles und reales Problem an. Wenn sein Film bewirkt, dass sich mehr Menschen mit dieser wichtigen Frage auseinander setzen, kann das nur gut sein.
Autor/in: Ingrid Glomp (Biologin), 12.12.2006