Kinofilmgeschichte
Kinofilmgeschichte X: Das politische Lied im Kino
Seine emotionale Wirkung entfaltet das Kino am besten im Melodram, in der Gattung der großen Gefühle auf und vor der Leinwand. Deswegen ist es auch die Gattung, in der sich vorzugsweise politische Botschaften transportieren lassen. Die erfolgreichsten Propagandafilme sind Melodramen. Im Melodram aber findet sich der Wortteil "melos", der im Altgriechischen "Lied" bedeutet, denn es waren ursprünglich gesungene Theaterdarbietungen. Ein Lied kann ein dramaturgisch wichtiges Element im Film sein. Lieder fungieren als Handlungsauslöser oder Leitmotive und mit Liedern verbinden sich Pathos-Formeln. Oft graben sich von einem Film die Lieder am tiefsten ins Gedächtnis. Das muss nicht im politischen Zusammenhang geschehen, wie man an Hans Albers' Songs "La Paloma" oder "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" in Helmut Käutners Große Freiheit Nr. 7 (D 1945) sehen und hören kann. Häufig aber werden Lieder als Kristallisationsmomente politischer Emotionalität eingesetzt.
Kein Lied dürfte öfter im Kino erklungen sein, als die französische Revolutionshymne Marseillaise. Und fast immer verbindet sich mit diesem Lied eine Aura von Freiheitsdrang. Die Marseillaise gehörte schon zu den Themen, die von Stummfilmpianisten leitmotivisch zur Begleitung der Leinwandaktion angeschlagen wurden. Ihren ersten bedeutenden Auftritt hat die Hymne tatsächlich noch in einem Stummfilm. In seinem monumentalen Epos Napoleon (F 1928) versuchte Abel Gance die Wirkung zu visualisieren, die das erste Erklingen der Marseillaise im revolutionären Convent ausgelöst hat. Um die Begeisterung zu zeigen, band er die Kamera an ein Seil und ließ sie durch die Massen wirbeln. Jean Renoir hat dem Lied später den Spielfilm La Marseillaise (F 1937) gewidmet. Doch die kinematographisch populärste Marseillaise erklingt in Michael Curtiz' Casablanca (USA 1942), wenn sie den Wettkampf mit der von Nazis geschmetterten "Wacht am Rhein" gewinnt. Die Szene hat ihr Vorbild in dem Bühnenstück "Italienische Nacht" von Ödön von Horvath, in dem allerdings die kommunistische "Internationale" mit dem Nazi-Weihelied "Die Fahne hoch" im Streit liegt.
Die beiden Lieder wurden selbst im nationalsozialistischen Propagandakino als weltanschauliche Signale eingesetzt, wie überhaupt das Anklingen von (National-) Hymnen als akustisches Kürzel für Schauplätze, Gesinnungen oder nationale Identifikation dient. Der längste Tag (USA 1961), ein Film über die Invasion in der Normandie, sortiert die alliierten Armeen mit solchen Signalen. Hans Westmar, Franz Wenzlers Werk zur Verherrlichung der SA aus dem Jahr 1933, zeigt in der Schluss-Apotheose, wie sich unter den Klängen von "Die Fahne hoch" geballte Kommunisten-Fäuste zum Hitler-Gruß öffnen.
Andererseits ist die Pathos-Wirkung der "Internationale" als "Kampflied der internationalen Arbeiterklasse" nicht minder wuchtig und wurde nicht nur in kommunistischen Propagandafilmen als Identifikationsangebot genutzt. Die italienische Filmserie um den Dorfpfarrer Don Camillo und den kommunistischen Bürgermeister Peppone spielt ironisch mit dem Signalcharakter der Melodie – etwa im Konflikt mit Camillos Glockenspiel. In Bernardo Bertoluccis Novecento (I 1976), das die italienische Geschichte der ersten Jahrhunderthälfte als Familiengeschichte von Klassengegnern erzählt, taucht die Melodie in verschiedener Funktion auf. Am Schluss des ersten Teils hallt sie melancholisch über den leeren Marktplatz von Parma, am Ende des zweiten Teils begleitet sie den Freudentanz der vom Faschismus befreiten Bauern unter einer riesigen roten Fahne. Auch der Grieche Theo Angelopoulos hat mit dieser Melodie gearbeitet. Im historischen Zeit-Labyrinth seiner Wanderschauspieler (GR 1974) hilft sie bei der Orientierung der Zuschauer und setzt außerdem historische Margen. Angelopoulos ist überhaupt ein Regisseur der Lieder, die seine Filme leitmotivisch orchestrieren. Aber auch ein Hollywood-Einsatz der "Internationale" soll nicht vergessen werden. In Warren Beattys Film Reds (USA 1981) über den Reporter John Reed erschallt sie mächtig, wenn der Held die verloren geglaubte Geliebte während der Oktoberrevolution in die Arme schließt.
Das Leben ist ein Chanson hat Alain Resnais seinen schönen Film über den Anteil der Musik an der Alltäglichkeit genannt. Auch das Kino ist oft ein Chanson – sei es in der Verklärung und historischen Erklärung des berühmten Lale-Andersen-Songs (auch einer filmisch immer wieder zitierten Signal-Melodie) durch Rainer Werner Fassbinders Lili Marleen (BRD 1980), sei es in Carlos Sauras Hommage auf das Kampflied der republikanischen Truppen im Spanischen Bürgerkrieg Ay Carmela (SP/I 1990), in Land and Freedom (GB 1994) von Ken Loach oder in der viele Episoden und Schicksale integrierenden Funktion der Nachtclub-Chansons in dem israelischen Film Life According to Agfa (1992).
Schließlich dürfen auch solche Lieder nicht vergessen werden, die – in politischer Absicht für Filme geschrieben – diese Filme an Wirkung weit übertroffen haben, z.B. Brecht/Eislers "Solidaritätslied" aus Slatan Dudows Kuhle Wampe (D 1932) oder der titelgebende Song von Ennio Morricone und Joan Baez aus dem Film Sacco und Vanzetti von Giuliano Montaldo. Politisch Lied im Kino – nicht unbedingt ein garstig Lied.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 11.12.2006