Filme des französischen Regisseurs Bertrand Tavernier wie
Der Saustall oder
Der Lockvogel haben immer wieder für Kontroversen gesorgt. Die emotionsgeladene Mischung aus Beifall und Buhrufen, die sich der Vorführung seines neuen Werkes
Es beginnt heute bei den diesjährigen Berliner Filmfestspielen anschloss, lässt sich dennoch nicht einfach als weiteres Beispiel für dieses Phänomen verbuchen. Es markiert vielmehr einen Wendepunkt im Kino der 90er Jahre, dem bereits ähnlich gelagerte Filme wie
Rosetta und
L'Humanité folgten: Es ist – auch wenn es einigen noch nicht behagt – offenbar wieder möglich, mit wirklichkeitsnahen Geschichten zu erzählen, wie sehr die Entwicklung der Gesellschaft davon abhängt, welche Chance sie jedem Einzelnen gibt. Dass die ungelösten sozialen Probleme von heute für das kommende Jahrtausend ganz entscheidend sein werden, ist eine Tatsache, die in vielen großen Zukunftsvisionen der letzten Zeit zu kurz kam und von der die zunehmende Flucht in virtuelle Welten nicht schützt.
Taverniers Film führt mitten hinein in die Turbulenzen einer Vorschule in der französischen Provinz, wo die Arbeitslosigkeit bis zu 40 % erreicht – doch unter weniger krassen Vorzeichen sind ähnliche Szenarien auch bei uns denkbar. Eltern, zermürbt von der erfolglosen Stellensuche, sind bisweilen nicht mehr in der Lage, ihre Kinder zum Unterricht zu bringen; andere betäuben die Misere mit Alkohol und fallen vor den Augen Vierjähriger betrunken zu Boden. Die Lehrer sind von ihren neuen Aufgaben, die durch die seelische und zeitliche Belastung jeden Lehrplan sprengen, ebenso überfordert wie die Mitarbeiter des Sozialamtes, zumal die staatlichen Zuschüsse beständig gekürzt werden. So entsteht schnell eine Spirale der Ausweglosigkeit, die sich resignierend um sich selbst dreht.
Bereits die Beschreibung solcher Lebensverhältnisse hätte gereicht, um einen beklemmenden Film über die desolate Realität zu drehen. Tavernier aber stellt in die Mitte dieser Misere eine Figur, die aus dem Kreislauf ausschert. Daniel, der noch junge Direktor der Schule, könnte sein Stundensoll im gleichen Maß erfüllen wie andere auch, hat dafür aber einen zu genauen Blick: für offene Schnürsenkel und fehlende Pausenbrote, für Striemen und Blutergüsse auf schmächtigen Kinderkörpern, für Blicke bar jeder kindlichen Lebensfreude. Unermüdlich hetzt er von hier nach dort, von Klassenzimmer zu Klassenzimmer, stürmt empört die sturen Behörden. Vielen, die den Film ablehnen, mag diese Figur zu idealisiert erscheinen als eine Art "Heiliger der Schulhöfe". Vielleicht muss sie aber so wirken, in einer Zeit, in der soziale Verantwortung in der Hitparade der unzeitgemäßen Tugenden ganz oben rangiert und nicht in das Lebenskonzept der "Lifestyle"-Jünger passt, die vor allem nach ästhetischem Genuss streben.
Daniel weiß, dass gerade Kinder Glücksmomente brauchen, an die sie sich in manch schwierigen Situationen späterer Jahre erinnern können, Erfolgserlebnisse, die ihnen helfen, eine Identität und ein Selbstwertgefühl zu finden. Es ist eine Binsenweisheit der Psychologie, dass sich frühes Leid verheerend auswirken kann auf die kindliche Entwicklung, dass Kränkungen oft weitergegeben werden und erfahrene Gewalt die Bereitschaft erhöht, später selbst gewalttätig zu werden. Eine Gesellschaft gefährdet sich also selbst, wenn sie die Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, nicht verbessert. Im Französischen bedeutet "l'humanité" bezeichnenderweise Menschlichkeit und Menschheit zugleich. Beides beginnt, so Philippe Torreton, der Darsteller des Daniel, in der Vorschule: "Mit drei, vier Jahren entscheidet sich alles – ob man einem Kind Lebenslust mitgibt und Stolz – oder eben nicht."
Eindrucksvoll verbindet Tavernier in seinem Film die Atmosphäre des Dokumentarischen mit poetischen Passagen, Bildern von der Schönheit der Landschaft und die ruhigen Reflexionen der Stimme des Drehbuch-Koautoren und Lehrers Dominique Sampiero aus dem Off. Das energiegeladene Spiel von Torreton ist auf geradezu frappierende Weise glaubwürdig und wie natürlich Tavernier die Kinder vor der Kamera führt, wäre allein eine Auszeichnung wert. Es – die Zukunft also – beginnt immer heute. Für diese wieder zu gewinnende Erkenntnis könnte Taverniers Film ein Anfang sein.
Autor/in: Tamara Dotterweich, 01.11.1999