Das Interview führte Volker Thomas.
Wie verbreitet sind okkulte Praktiken unter Jugendlichen?
Es existiert bislang keine umfassende und unabhängige Untersuchung, die wirklich aussagekräftig wäre. Man ist weitgehend auf Vermutungen angewiesen. Als sicher kann gelten, dass trotz eines generell vorhandenen Interesses vieler Jugendlicher an Esoterik, Okkultismus oder Satanismus der Kreis ernsthaft praktizierender Satanisten verschwindend gering ist. Das hindert die Medien nicht daran, aufgrund des bizarren Erscheinungsbildes mancher neo-satanistischer Kulte und ihrer Praktiken, derartige Erscheinungen als Gefahr für die Öffentlichkeit hochzustilisieren. Die verzerrte Berichterstattung mancher Medien ist durchaus geeignet, bei labilen Jugendlichen ein generelles Interesse zu wecken.
Ist eine Aussage über die Dunkelziffer machbar?
Das hängt davon ab, ob man geneigt ist, auch das Studieren von Horoskopen, den Blick in die Karten oder den Besuch von Yoga-Kursen mit einzubeziehen. Ernsthaft Praktizierende sind selten, wenngleich gesellschaftlich geächtetes oder umstrittenes Verhalten auf viele anziehend und geheimnisvoll wirkt.
Wie verhält es sich mit der Gothic Szene, die vielfach mit Okkultismus in Verbindung gebracht wird?
Nicht jeder, der Gothic-Rock oder Dark-Wave mag, ist Okkultist. Zumeist beschränkt sich die Zugehörigkeit zu dieser Szene auf die Freude an düsterer, melancholischer Musik und stilvoller, ausgefallener Kleidung. Ich halte auch nichts davon, allerorten versteckte und geheime Botschaften in Rocktiteln zu vermuten oder in der Verwendung von Pentagrammen und umgedrehten Kreuzen ein Bekenntnis zum Satanismus erkennen zu wollen. Provokation ist seit jeher ein wichtiges Mittel rebellischer Jugend in der Auseinandersetzung mit etablierten Strukturen und folgerichtig ist die Wahl möglichst drastischer Symbole geradezu verpflichtend.
Was fasziniert Jugendliche daran?
Das Geheimnisvolle, das Mystische, die Romantik. Wir leben in einer nüchternen, vom Rationalismus geprägten Welt, die den Glauben an das so genannte Übersinnliche von vornherein negiert und für alles "wissenschaftliche" Erklärungen bereit hält. Jugendliche verfügen vielfach noch über ein hohes Potenzial an Fantasie und sind nicht gewillt, sich gängigen Anschauungen vorschnell zu unterwerfen. Es sind nicht selten ausgesprochen intelligente und wissbegierige Menschen, die sich in die Welt des Okkulten begeben und diese als real betrachten, während ihre Mitmenschen gerne von einer Scheinwelt reden.
Werden Horrorfilme mit Versatzstücken okkulter Systeme zum Ersatz für Märchen, die unserer Welt abhanden gekommen sind?
Vielleicht. Das Interessante am Okkultismus scheint mir, dass unbewusste psychische Schichten ins Blickfeld geraten, die von konservativen Psychologen und Psychoanalytikern gerne vernachlässigt werden. Der Einzelne scheint durch Unterweisungen in okkulten Traditionen, Geheimwissenschaften und durch die Beschäftigung mit subkulturellen Religionen einen anderen Zugang zu sich selbst zu gewinnen, der ihm sonst vielleicht verwehrt bleibt. Hier berühren sich die Esoterik-, die Psycho- und die Okkultismus-Szene.
Können Sie sich erklären, warum derzeit verstärkt Filme ins Kino kommen, die den Umgang mit Dämonen und Geistern thematisieren?
Sicherlich spielt der Jahrtausendwechsel und die damit einher gehende Unsicherheit vieler Menschen eine Rolle, andererseits sind derartige Streifen schon seit den frühen 60er Jahren auf dem Markt. Expressionistische Filme wie
Nosferatu und
Der Golem aus Deutschland datieren sogar schon aus den 20er Jahren und belegen das frühe Interesse der Filmemacher an solchen Themen. Heute kommen solche Produktionen hauptsächlich aus den USA, wo das Christentum noch einen ganz anderen Stellenwert einnimmt als in Europa. Filme mit einschlägig okkulter Symbolik können dort noch eine ganze andere Wirkung hervorrufen. Das gilt auch im Musikbereich – eine Band wie "Marilyn Manson", die in ihren Alben Titel wie "Antichrist Superstar" hat, vermag hierzulande kaum Aufsehen zu erregen, in den USA gilt sie als Gefahr für christliche Moral und Anstand.
Wie wirken sich der Glaube an das Übersinnliche und okkulte Praktiken auf den Einzelnen aus?
Bei Jugendlichen, die sich intensiv mit diesen Praktiken auseinander setzen, entsteht häufig das Verlangen, stärkeren Einfluss auf ihre Umgebung, auf andere Menschen auszuüben, der ihnen sonst versagt bleibt. Sie versuchen mittels Magie und den Glauben an höhere Wesen oder höhere Schichten des eigenen Selbst ihre Persönlichkeit zu stärken. Glaube versetzt manchmal Berge und das heißt: Wer glaubt, will einen Erfolg sehen und sieht ihn auch. Viele solcher Jugendlicher werden als weltfremde Spinner betrachtet und suchen sich daher Gleichgesinnte, die ihre Anschauungen teilen; sie bilden Zirkel und kapseln sich nach außen ab. Die Gefahr wächst, wenn sie psychisch labil sind. Man denke an die Massenselbstmorde der Davidianer oder der Sonnentempler und an religiösen Fanatismus. Schlagzeilen machten in der Vergangenheit auch Berichte von Menschen, die angaben, ihnen habe eine Stimme befohlen, ihren Nachbarn zu ermorden. Nach meiner Einschätzung ist in solchen Fällen ein Hang zum Okkultismus – wenn überhaupt gegeben – nicht die Ursache dieser Taten. Meist liegt eine gravierende psychische Störung vor und die wäre vermutlich frühzeitig zu diagnostizieren gewesen.
Arvid Dittmann ist Sozialpädagoge und Mitarbeiter im "Archiv der Jugendkulturen", Berlin. Dort ist er Ansprechpartner für die Themengebiete Okkultismus, Rechtsradikalismus, Gothic- und Metal-Szene. Ein Beitrag über die Gothic-Szene erscheint in dem Band "Artificial Tribes" Anfang 2001 (Verlag Tilsner, Bad Tölz). Der 33-Jährige ist außerdem seit zwölf Jahren in Berliner Clubs als Discjockey tätig.