Hintergrund
Sprache ist ein Wert an sich
Miyazaki zur Figur der Chihiro:
Ich kenne fünf kleine Mädchen, ca. zehn Jahre alt, die ich treffe, wenn ich in meinem Haus in den Bergen bin. Eines Tages fragte ich mich, wovon sie träumen und was sie sich erhoffen, und ich fing an, "Shojo Manga" zu lesen. Der extrem romantische Ton stieß mich ab. Also suchte ich nach etwas anderem, das ihr Interesse wecken könnte und stellte fest, dass mit Ausnahme einiger weniger exzellenter Autoren wie Osamu Tezuka niemand, auch ich nicht, auf die Sorgen und Bedürfnisse dieser kleinen Mädchen einging. Es gab eine Fülle von Publikationen, abgestimmt auf die Nöte von Jungen in diesem Alter. So machte ich mir zur Aufgabe, etwas zu schreiben, was junge Mädchen ansprechen würde. Etwas, was sie beschäftigen würde in bezug auf ihre Beziehung zur Gesellschaft und ihrer Zukunft. In einer Welt, wo sie übermäßig beschützt sind und nur in Clubs mit strikten und unflexiblen Öffnungszeiten spielen können, schwinden die Kinder dahin. Darunter leidet auch Chihiro. Die Wut auf ihrem Gesicht ist typisch für Kinder, die nicht genug Zeit zum Spielen haben. Aber im Angesicht der Krise erwacht in Chihiro die Kämpfernatur. Ihre Fähigkeit, sich anzupassen und sich auf ihr eigenes Urteil zu verlassen tritt in den Vordergrund. Ich wollte sie nicht zu einer süßen kleinen Heldin stilisieren. Ihr Charme kommt aus ihrem Herzen und aus der Tiefe ihrer Seele.
Miyazaki zu Tradition und Herkunft:
Kinder konsumieren pausenlos überflüssige Produkte, die sie ihrer Wurzeln berauben. Jedes Land hat seine eigenen Traditionen und es ist wichtig, sie zu pflegen und weiterzugeben. Beschränkungen und Grenzen schwinden dahin. Paradoxerweise verachten wir Menschen, die nirgends hingehören. Ich glaube, dass Menschen, die den Kontakt zu ihrem Erbe verloren haben, verschwinden werden. Das möchte ich zehnjährigen Mädchen vermitteln. Ich will sie ermutigen und ihnen sagen, dass sie Erfolg haben können wie Chihiro. Ich glaube, das ist mir gelungen. Ich hoffe,
Chihiros Reise ins Zauberland wird nicht als Initiations-Reise verstanden. Diese Masche wird oft in Filmen eingesetzt als Entschuldigung für billige Liebesgeschichten. Diese lächerliche Idee wollte ich in
Chihiros Reise ins Zauberland entlarven. Am Ende des Films hat Chihiro lediglich gelernt, auf sich selbst zu vertrauen.
Miyazaki zur Figur des Ohngesicht:
Mir gefiel die Vorstellung von diesem umherwandernden Gott, der kein Zuhause hat und kein Fundament in der japanischen Tradition. In Wirklichkeit repräsentiert Kaonashi das heutige Japan. Viele Menschen glauben, dass Geld sie glücklich machen kann. Aber macht Kaonashi die Leute glücklich, wenn er ihnen Geld schenkt? Interessant war die öffentliche Meinung über diese Figur. Einige dachten, Ohngesicht sei eine Mutter. Andere sahen ihn als Vaterfigur. Ein kleiner Junge schrieb mir, dass es ihn sehr traurig mache, dass Ohngesicht kein Zuhause hat und dass er vor Freude weinte, als Chihiro ihm erlaubte, sie auf der Zugfahrt zu begleiten.
Miyazaki zu Schuld und Sühne im Märchen:
Ich wollte keine westlich orientierte Fabel mit allen möglichen Fluchtlöchern. In
Pinocchio habe ich vor Freude gezittert bei der Szene, in der sich die Puppe und ihre Freunde betrinken, Pool spielen und Zigarren rauchen. Kinder lieben Dekadenz. In
Chihiros Reise ins Zauberland werden die Eltern in Schweine verwandelt. Wenn sie zu oft in Disneyland gewesen wären, hätte ich ihre Ohren vielleicht noch größer wachsen lassen ...
Miyazaki zur ursprünglichen Bedeutung von Sprache:
Ich wollte in unserer kommerziellen Kultur eine Idee der Kommunikation vermitteln. Sprache ist Kraft. In der Welt, in der Chihiro verloren geht, schafft das Aussprechen eines Wortes einen klaren, definitiven Akt. Als Chihiro mit Nachdruck zu Yubaba sagt, dass sie arbeiten will, kann die Hexe sie nicht stoppen. Heute ist Sprache herabgesetzt und wird als gegeben hingenommen. Proklamationen haben keinen Wert mehr. Wir verhandeln das Gewicht der Wörter. Das ist ernst zu nehmen. Keine Erklärung wird vergebens gemacht. In
Chihiros Reise ins Zauberland ist das Wegnehmen des Namens einer Person gleichbedeutend mit der Herrschaft über sie. Sen (Chihiro) lebt in der permanenten Bedrohung, verspeist zu werden. Das ist die treibende Kraft. Normalerweise wäre sie missmutig, aber stattdessen ist sie entzückend. Mit diesem Film will ich zeigen, dass Sprache ein Wert an sich ist, der Energie in sich trägt.
Miyazaki zur Rolle des Religiösen in Japan:
In Japan hat Religion mehr kulturellen Charakter, als dass sie notwendigerweise Gläubige und Gefolgsleute anziehen muss. Religion, sei es nun Buddhismus oder Schintoismus, ist in diesem Land allgegenwärtig, aber nicht zwingend, nicht überwältigend. Religiöse Symbole finden sich überall. So setze ich sie auch in meinen Filmen ein. Sie sind auf dem Set verstreut, treten aber nie in den Vordergrund. Sie sind Zeugnis von Tradition und Lebensalltag. In Japan glauben wir seit Tausenden von Jahren, dass die Kami (Götter) und die Rei (Geister) überall sind: in Flüssen, in jedem einzelnen Baum, in jedem Haus und jeder Küche. Als ich
Chihiros Reise ins Zauberland entwickelte, visualisierte ich diese Kamis. Die meisten entsprangen meiner Imagination. Andere haben ihren Ursprung in der japanischen Folklore. Beispielsweise war die Papiermaske, die bei den Zeremonien im Kasuga Taisha Tempel benutzt wird, eine Anregung für eine Gottheit.
Miyazaki zu den zahlreichen Szenen im Badehaus:
Der Ausgangspunkt des Films ist zu zeigen, dass Götter und Geister ins Badehaus oder Yuya gehen, um zu entspannen. Ich habe tatsächlich klare Erinnerungen an Yuyas aus meiner Kindheit. In einem dieser Bäder habe ich mein erstes westlich inspiriertes Gemälde gesehen. Als ich klein war, bemerkte ich auch eine winzige Tür im Hauptbadebereich eines Yuya. Einige Nächte lang verfolgte mich die Vorstellung, was sich hinter dieser Tür wohl verbergen könnte. Lange Zeit wollte ich einen Film machen, der dieses Mysterium aufdeckt. Ich machte das Thema interessanter, indem ich Götter in den Mittelpunkt der Intrige stellte. Ich unterstelle einmal, dass japanische volkstümliche Gottheiten sich im warmen Wasser stärken müssen, ehe sie zur Arbeit gehen, wie Geschäftsmänner. Natürlich würden sie alle gerne ein bisschen länger im Badehaus verweilen, aber wenn das Wochenende vorbei ist, müssen sie raus. Ich stelle mir vor, dass die Götter heutzutage schwer beschäftigt sind.
Miyazaki zu den Zwillingsschwestern Yubaba und Zeniba:
Yubaba steht für den arbeitenden Menschen. Zeniba ist die gleiche Person, aber in ihrer häuslichen Funktion. Wir kennen alle aggressive Menschen in ihrer professionellen Umgebung. Aber wenn sie nach Hause kommen, sind sie viel ruhiger und netter.
Miyazaki zu Parallelen zwischen der Geisterwelt im Film und den Ghibli Studios, die diesen Film produziert haben:
Ich persönlich bin Kamaji. Yubaba ist Mr. Suzuki, der Präsident von Ghibli. So wie das Badehaus betrieben wird, läuft im Großen und Ganzen auch unser Studio. Chihiro könnte ein junger Zeichner sein, der uns besuchen kommt. Bei ihrer Ankunft hört sie Yubaba herumschreien und jedem Befehle erteilen. Und auch Kamaji muss unter ihrer Fuchtel hart arbeiten. Er ist so überarbeitet, dass er gar nicht genug Arme und Beine haben kann, um alle Aufgaben auszuführen. Chihiro muss sich als nützlich erweisen, um nicht von Yubaba beiseite geschafft, das heißt gefeuert, zu werden.
(Alle Zitate wurden dem Presseheft zum Film entnommen und von Holger Twele zusammengestellt)